Stichentscheid:Wiener Katzenjammer

Österreichs oberste Richter hatten im Juli die Wiederholung des Wahlgangs angeordnet. Nun geraten sie dafür in die Kritik.

Von Cathrin Kahlweit

"Fehlurteil" war in großen Lettern auf der jüngsten Ausgabe der Wiener Stadtzeitung Falter zu lesen. Und wie von der Redaktion erwartet, fand die Analyse des prominenten Verfassungsrechtlers Heinz Mayer in Österreich große Beachtung. Das oberste Gericht des Landes habe mit seinem Urteil zur Anfechtung der Bundespräsidentenwahl vom 22. Mai "den Boden der Verfassung verlassen", so das Fazit. Es habe weltfremd argumentiert und nicht ausreichend gründlich und verantwortungsbewusst entschieden.

Harter Tobak, allerdings: Mit dem Gefühl der Frustration, das in dem Text zum Ausdruck kommt, ist Mayer längst nicht mehr allein. Anfang Juli hatte das Verfassungsgericht die Stichwahl aufgehoben, weil theoretisch nicht auszuschließen sei, dass es bei der Abwicklung zu Manipulationen hätte kommen können. Damals hatte sich anfangs so etwas wie paradoxe Erleichterung im Land breitgemacht. Zwar würde nun FPÖ-Kandidat Norbert Hofer zum zweiten Mal die Chance erhalten, Präsident zu werden - obwohl es ja bereits einen gewählten Staatschef, Alexander Van der Bellen, gab und obwohl keinerlei Hinweise auf tatsächliche Wahlfälschungen vorlagen. Aber das Gericht hatte staatstragend entschieden. Kein Hauch eines Zweifels sollte bleiben, dass Österreich die Regeln des Wählens beherrscht und einhält. Die Verfassungsrichter hätten zeigen wollen, so Falter-Herausgeber Armin Thurnher, dass der Rechtsstaat "unangreifbar" sei - auch gegen Misstrauensattacken der rechtspopulistischen FPÖ.

Bei der Stimmabgabe dürfen die Kandidaten nicht gefilmt werden

Nur wenige Kritiker hatten sich gegen das Urteil gestellt, weil es, so etwa der Spezialist für Öffentliches Recht, Theo Öhlinger, "mutwillige Wahlanfechtungen" heraufbeschwöre. Ansonsten herrschte breite Zustimmung, auch wenn es allgemein als unerträglich gewertet wurde, dass Österreich damit in die Nähe "postsowjetischer Halbdiktaturen" (Öhlinger) gerückt worden sei. Doch inzwischen ist der Katzenjammer groß, die Zweifel wachsen. Hätte es nicht gereicht, in betroffenen Bezirken neu auszuzählen? Hätte der Verfassungsgerichtshof nicht neue Regeln für die Briefwahl einfordern können, an deren Auszählung sich die Anfechtungsbefürworter vor allem abarbeiteten, oder schärfere Regeln für Wahltag und Zähltag allgemein? Musste es gleich die ganz große Lösung sein, für die es in Europa keinen Präzedenzfall gibt?

Nun müssen die Wähler zum dritten Mal an die Urnen, um ihren Präsidenten zu küren, und das Innenministerium hat eine ganze Latte neuer Regeln erlassen, damit diesmal nun wirklich gar keine bürokratische oder organisatorische Lücke mehr bleibt, über die sich die OSZE, das Ausland oder potenzielle Ergebnis-Umkehrer erregen können. Nun dürfen Kandidaten bei der Stimmabgabe nicht mehr gefilmt werden, Wähler dürfen ihre Stimmzettel nicht mehr selbst in die Urne werfen. Teilergebnisse dürfen nicht mehr vorab an die Medien weitergegeben werden. Die Wahlhelfer werden geschult, damit niemand mehr am Montag vor neun Uhr mit der Auszählung der Briefwahlzettel anfängt. Allein: Das Wählerregister wurde nicht aktualisiert; wer seit Mai 16 Jahre alt und damit wahlberechtigt wurde, darf dennoch nicht mitwählen. Ob das ein Grund für die nächste Anfechtung sein könnte, wurde Justizminister Wolfgang Brandstetter gefragt. "Man muss immer damit rechnen", sagte dieser.

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