Steinbrück und die Außenpolitik: Von Arschkriecherei und dem Wandel durch Annäherung

Steinbrück spricht an der freien Universität Berlin

Kanzlerkandidat über Außenpolitik: Peer Steinbrück (SPD) spricht an der Freien Universität Berlin.

(Foto: dpa)

Merkel reist in die Flutgebiete und Peer Steinbrück hält seine außenpolitische Grundsatzrede als Kanzlerkandidat der SPD. Die Kanzlerin wird wohl mehr Beachtung finden. Dabei ist es Steinbrück endlich mal gelungen, sich in wichtigen Fragen deutlich von der Kanzlerin abzugrenzen.

Von Thorsten Denkler, Berlin

Sie redet sich gerade in Rage, Punkt eins, zwei, drei und vier. Oder schon Punkt fünf? Na, egal. In der letzten Reihe ganz oben steht die Studentin im großen Hörsaal 1a an der Freien Universität Berlin. Sie redet schnell, ein wenig wirr. Und unten am Pult versucht Peer Steinbrück zu verstehen, was ihm die junge Frau sagen will.

Ein Wort aber bleibt hängen, eines, das ganz gut das Dilemma umreißt, mit dem Außenpolitiker zu kämpfen haben. Zumal, wenn sie sozialdemokratischer Herkunft sind: Arschkriecherei.

Es geht um Russland und die Probleme dort mit Demokratie und Menschenrechten. Steinbrück hat in seiner Rede zuvor die Grundzüge einer sozialdemokratischen Außenpolitik skizziert. Und natürlich kommt er auch auf Russland zu sprechen, diese "verletzte Großmacht", wie er sagt.

Staatliche Willkür, die Durchsuchung politischer Stiftungen, das sei "inakzeptabel". Russland müsse sich an seinen völkerrechtlichen Vereinbarungen messen lassen. Und doch bleibe das Land "zweifellos von zentraler Bedeutung". Probleme wie der Bürgerkrieg in Syrien, die globale Abrüstung oder das Klima könnten "nicht ohne Russland gelöst werden". Russland bleibe ein "wichtiger Partner". Er sei nicht der erste Sozialdemokrat, der durch Annährung etwas zum Positiven zu verändern versuchen wolle, sagt Steinbrück - und stellt seine bislang nur geplante Außenpolitik auf eine Stufe mit der Willy Brandts.

Zuhörerin spricht von "Arschkriecherei"

"Arschkriecherei" nennt die Studentin aus der letzten Reihe das. Sie meint vor allem Gerhard Schröder, jenen Sozialdemokraten und Kanzler, der in Russlands Präsidenten Wladimir Putin einen "lupenreinen Demokraten" sah. Diese Art der Annäherung habe doch die üble Entwicklung in Russland gerade nicht verhindert.

Steinbrück ist das zu wenig: "Ich habe nicht verstanden, welche alternative Vorstellung Sie mir mit auf denen Weg geben können. Ob Sie eine andere Zugangsmöglichkeit sehen als buchstäblich über Wandel durch Annäherung." Er warnt davor, die Menschenrechtsfrage so hoch zu hängen, "dass ich mit einem Regime nicht in Kontakt treten kann". Und weiter: "Wenn Sie mir sagen, dass mich das politisch korrupt macht, dann habe ich keinen Einfluss mehr."

Wandel durch Annäherung: Das Konzept von Egon Bahr, vertreten von Kanzler Willy Brandt. Es sollte eine neue Ära der Ostpolitik einleiten. Der frühere US-Präsident John F. Kennedy hatte exakt das gefordert, als er vor ziemlich genau 50 Jahren Berlin besuchte und an der FU eine weniger beachtete aber umso wichtigere Rede hielt. "Zum ersten Mal sagte ein amerikanischer Präsident, dass die Hoffnung auf eine schnelle Wiedervereinigung eben nicht wahrscheinlich war", erinnert Steinbrück. Er selbst hat Egon Bahr mal gefragt, wie das damals war. "Adenauers Gesicht versteinerte. Willy Brandt klatschte", berichtet Steinbrück. Für Brandt sei die Rede eine Ermutigung gewesen. Mit der für Steinbrück bis heute gültigen Erkenntnis: "Wer den Status quo ändern will, muss erst anerkennen."

Steinbrück will syrischen Rebellen keine Waffen schicken

Also: "Vor welchen Selbsttäuschungen müssen wir uns heute bewahren?", fragt Steinbrück. Diese Frage ist der Ausgangspunkt für seine außenpolitischen Grundsatzüberlegungen.

Zum Beispiel Europa. In der Euro- und Finanzkrise will Steinbrück weg von einer reinen Politik der Konsolidierung. Die hinterlasse nur ein Heer junger Menschen ohne Arbeit. "Wir brauchen so etwas wie einen Marshallplan zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der EU-Länder." Ein Ausbildungs- und Beschäftigungsprogramm etwa. Umfang zehn Milliarden Euro. Angesichts der 700 Milliarden Euro, mit denen die Euro-Staaten ihre Banken stützen, sollte das möglich sein, findet Steinbrück.

Europa müsse der drohenden Legitimationskrise begegnen. "Dem Bürger ist die Europahymne nicht mehr so gegenwärtig. Sie wird nicht mehr als Musik empfunden", findet Steinbrück. Darum müsse das Europäische Parlament gestärkt werden. Das Gremium müsse ein eigenes Initiativrecht für Gesetze bekommen. Steinbrück fordert die Abschaffung der drei bisherigen EU-Präsidenten zu Gunsten eines Präsidenten, der zudem vom Europäischen Parlament gewählt werden soll. Und er will einen Anlauf für einen neuen europäischen Reform-Konvent unternehmen "mit dem Ziel, die Demokratiedefizite in Europa zu überwinden".

Und er will ein Europa der vielen Geschwindigkeiten, in dem sich Staaten für gemeinsame Projekte zusammentun können. Etwa, um Steuern zu harmonisieren oder Sozialstandards zu definieren.

Steinbrück will Partnerschaft von EU, USA und Russland

Steinbrück stellt nüchtern fest, dass die EU keine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik habe. Der Streit um Waffenlieferungen nach Syrien habe das gerade erst wieder gezeigt. Er würde übrigens keine Waffen schicken. Zu unübersichtlich sei die Lage. Niemand könne sagen, wohin die Waffen tatsächlich gingen. Syrien brauche stattdessen eine zweite Genfer Friedenskonferenz. Diese Idee zu unterstützen müsse die Aufgabe deutscher Außenpolitik sein.

Er beschreibt den Wunsch der Amerikaner nach einem Europa, das mit einer Stimme spricht. Weil das nur selten gelinge, orientierten sich die USA zunehmend nach Asien. "Das würde ich genauso machen." "Die USA erwarten von uns, unsere Verteidigungsfähigkeit selbstverantwortlich sicherzustellen." Steinbrück wiederholt: "Selbstverantwortlich sicherzustellen." Wohl weil er weiß, dass Europa dazu im Moment schlicht nicht in der Lage wäre. Ziel müsse sein, die USA, die EU und Russland "in einer Sicherheitspartnerschaft fest miteinander zu verbinden".

Natürlich fehlt nicht das Bekenntnis zur transatlantischen Partnerschaft, wenn auch unter veränderten Bedingungen. Und zur deutsch-französischen Achse unter enger Einbindung Polens.

In vielen Fragen klingt Steinbrück stark nach Angela Merkel. Aber das ist wohl dem Grundsatz der außenpolitischen Kontinuität geschuldet, der auch für ihn gilt. Dennoch kann er sich in seiner Rede an einigen Stellen deutlich anders positionieren. Das gelingt ihm angesichts einer Kanzlerin, die jetzt sogar für Mietbegrenzungen eintritt, immer seltener. Steinbrück erlaubt sich da für einen Moment, "agitatorisch" zu werden, wie er selbst sagt. "Wer hat denn in den vergangenen dreieinhalb Jahren regiert?", fragt er. "Das waren doch die und nicht ich!" Und setzt nach: "Am Abend werden die Faulen fleißig." Applaus brandet auf. Die Studenten haben verstanden.

Kanzlerin Merkel ist da übrigens schon auf dem Weg in die Flutgebiete. Diese Bilder werden die Nachrichten bestimmen. Steinbrücks Rede zur Außenpolitik dagegen wird im Wahlkampfgetöse verhallen. Mit Außenpolitik lassen sich ohnehin nur schlecht Wahlen gewinnen. Darum wird auch Steinbrück irgendwann die Flut besichtigen. Oder zumindest die Schäden, die sie hinterlassen wird. Zu Beginn seiner Rede fordert er, es müsse "konkrete Hilfsangebote geben, um die Schäden zu begleichen". Das passt zwar nicht hierher. Aber es sichert ihm zumindest die Chance, neben Merkel in einer der vielen Sondersendungen zur Flut in Erscheinung zu treten.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: