Spitzentreffen:Merkel trifft Erdoğan: Dissens in 60 Minuten

Bundeskanzlerin Angela Merkel  in der T¸rkei

Man kennt sich, man streitet sich - aber nicht unbedingt auf offener Bühne: Angela Merkel und Recep Tayyip Erdoğan am Montag in Istanbul.

(Foto: dpa)
  • Nach dem Gespräch zwischen dem türkischen Präsidenten und der Kanzlerin bleiben ihr zufolge "Fragen offen".
  • Bevor Merkel mit Erdoğan spricht, hat sie sich mit Vertretern der Zivilgesellschaft getroffen. Die ärgert es, dass der EU-Türkei-Deal alles in den Schatten stellt.
  • Das Abkommen liegt in beidseitigem Interesse - doch darüber einigen, ob die Voraussetzungen für die versprochene Visaliberalisierung erfüllt sind oder nicht, können sich die Regierungschefin und das Staatsoberhaupt nicht.

Von Nico Fried und Mike Szymanski

Es dauerte länger als erwartet, aber ob es deshalb auch besser war? Angela Merkel kommt mit gut 30 Minuten Verspätung ins deutsche Generalkonsulat in Istanbul. Rechts von ihr der Bosporus, hinter ihr ein Bild von Kaiser Wilhelm II in osmanischer Uniform. Eine gemeinsame Pressekonferenz gibt es nicht nach dem Gespräch mit Recep Rayyip Erdoğan, der türkische Präsident erwartet noch andere Staats- und Regierungschefs. Merkel berichtet der Presse allein und sagt: "Es bleiben noch Fragen offen."

Das bezieht sich erst einmal auf die Fragen nach der Demokratie in der Türkei, die Merkel Erdoğan nach eigenem Bekunden gestellt hat. Die Aufhebung der Immunität für fast ein Viertel der Abgeordneten im Parlament nennt sie "einen Grund für tiefe Besorgnis".

Doch je länger Merkel redet, desto mehr drängt sich der Eindruck auf, dass das mit den offenen Fragen noch für weitaus mehr gilt - zum Beispiel für das Flüchtlingsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei, das Merkel wichtig ist; und für die Visa-Liberalisierung, die für die Türken besonders große Bedeutung hat.

Kein Treffen mit Vertretern der Opposition

Erdoğan und Merkel waren sich schon im Lauf des Montags wiederholt während des UN-Gipfels für humanitäre Hilfe über den Weg gelaufen. Sie saßen nebeneinander in einer Diskussionsrunde mit dem passenden Titel "Vorbeugung und Lösung von Konflikten". Zu Angela Merkels kurzer Rede in diesem Forum nickte der türkische Präsident wohlwollend. Das eigentliche Treffen der beiden war dann, gemessen an der Aufregung drumherum, eher unspektakulär.

Etwa 60 statt wie geplant 45 Minuten dauerte es. Die Kanzlerin war schon am Sonntag angereist, um sich mit sieben Vertretern der Zivilgesellschaft zu treffen, allerdings keinen Oppositionellen, etwa von der kurdischen HDP-Partei, sondern Vertretern wichtiger Organisationen: die Vorsitzende des Unternehmerverbandes, der Präsident der Anwaltskammer oder Osman Kavala, 59, ein engagierter Geschäftsmann, der sich um die Aussöhnung mit den Kurden bemüht. Cumhuriyet-Chefredakteur Can Dündar, dem gerade der Prozess gemacht wird, in dem Erdoğan als Nebenkläger auftritt, war nicht dabei. Dafür Barçin Yinanç von der Hürriyet Daily News, die Merkel bisweilen sogar selber liest. Zwei Stunden saß man zusammen.

Der EU-Türkei-Deal droht alles andere in den Schatten zu stellen

Osman Kavala erzählt nach dem Gespräch, dass Merkel geradezu wissbegierig gewesen sei, sich Notizen gemacht und Nachfragen gestellt habe. "Ich hatte den Eindruck, dass ihr Interesse jenseits der Flüchtlingskrise liegt." Um die Demokratiedefizite sei es gegangen, den Kurdenkonflikt, die Aufhebung der Immunität von gut einem Viertel der Parlamentarier am vergangenen Freitag. "Ich glaube, dass sie die Probleme erkannt hat. Sie hat versucht, die Stimmung aufzunehmen."

Auch Kavala hat gesprochen. Er ärgert sich, dass das Flüchtlingsabkommen im deutsch-türkischen Verhältnis alles andere in den Schatten zu stellen droht. "Es sollte nicht das Hauptthema sein", findet er. Die Zivilgesellschaft habe einen "fest verwurzelten Willen, die Türkei als Teil Europas zu sehen". Kavala befürchtet, der Flüchtlingsdeal werde "instrumentalisiert", auch von europäischen Politikern, die die Türkei nicht in der Familie haben wollten.

Kavala hat mitbekommen, dass die Kanzlerin in Deutschland unter Druck steht, sich von Erdoğan nicht alles bieten zu lassen. Er findet es paradox, wie dieser Eindruck entstehen konnte. In der Flüchtlingskrise habe sich Merkel doch wie kaum ein anderer Politiker in Europa für die Menschen- und Freiheitsrechte eingesetzt. Und nun werde ihr im Umgang mit der Türkei vorgeworfen, sie seien ihr nicht wichtig genug. Kavala erwartete deshalb nach seinem Treffen mit der Kanzlerin, dass sie "offene Worte findet, wenn sie mit Erdoğan spricht".

Bisweilen ruppig verlief das Treffen zwischen Erdoğan und Merkel

Atmosphärisch war es am Montag dann wohl wie immer zwischen Merkel und Erdoğan. Nicht sehr eng, bisweilen ruppig, aber letztlich sachlich. Sie habe deutlich gemacht, sagt Merkel danach, dass Deutschland beim Flüchtlingsabkommen zu seinen Verpflichtungen stehe. Das gelte insbesondere auch für die Zusage, mit weiteren EU-Staaten freiwillig zusätzliche Flüchtlingskontingente aufzunehmen, mit denen die Türkei entlastet werden soll.

Bedeutend schwieriger sieht es bei den Themen aus, die vor allem für die Türkei von Bedeutung sind. Die Visa-Liberalisierung ist umstritten, weil die EU vor allem in der Anti-Terror-Politik von der Türkei noch Veränderungen erwartet.

Erdoğan, so berichtet es Merkel, habe deutlich gemacht, dass er wegen der Bedrohung durch die kurdische Terrororganisation PKK "derzeit" nicht bereit sei, an der Terrorgesetzgebung etwas zu ändern. Dass alle notwendigen Bedingungen noch in diesem Jahr erfüllt werden, wird in Berlin längst bezweifelt, Merkel sagt dies in Istanbul dann auch ganz offen, dass die Bedingungen für die Visafreiheit zum verabredeten Termin 1. Juli "noch nicht erfüllt sein werden". Welche Konsequenzen die Türkei daraus ziehen könnte, lässt Merkel offen. Zur Sicherheit bekräftigt sie noch einmal ihr Mantra, dass das Abkommen im beiderseitigen Interesse sei.

Reformen setzt Erdoğan durch, wenn sie seinem Machtanspruch nützen

Der heutige türkische Präsident und Merkel kennen sich seit 2004. Die damalige Oppositionsführerin, die eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU stets abgelehnt hat, warb seinerzeit für ihr Konzept einer privilegierten Partnerschaft. Erdoğan, damals noch Ministerpräsident und verwöhnt von Gerhard Schröders unverbrüchlicher Unterstützung für den EU-Beitritt, schimpfte über Merkels Idee: Das sei so, "als komme der Bräutigam zur Hochzeit und sage statt des Jaworts: "Lass uns doch einfach gute Freunde sein."

Den Vorwurf, sie sei wegen ihrer distanzierten Haltung mitverantwortlich für Erdoğans Abrücken von der EU, weist Merkel stets zurück. Sie glaubt, dass der wichtigste Mann der türkischen Politik ein eher funktionales Verhältnis zu den Beitrittsverhandlungen hat: Reformen setzt er durch, wenn sie seinem Machtanspruch nützen, zum Beispiel bei der Schwächung der politischen Rolle des Militärs.

Mit dem Abkommen zum Umgang mit den Flüchtlingen, auf europäischer Seite von Merkel maßgeblich betrieben, haben die Beziehungen nun eine ganz neue Qualität erhalten. Merkel ist davon überzeugt, dass der Vertrag auch im Interesse der Türkei sei. Zufrieden wird in Berlin darauf hingewiesen, dass die Türkei allen Differenzen zum Trotz bisher alle unmittelbar mit der Flüchtlingsrückführung verbundenen Punkte erfüllt habe. Merkels Hoffnung ist offenbar, dass Erdoğan auch das Flüchtlingsabkommen nach seinem Nutzen abklopft und dabei zu einem möglichst positiven Ergebnis kommt.

Freilich zieht die Kanzlerin auch einen bemerkenswerten Vergleich. Ihr sei von Anfang an klar gewesen, dass man das Abkommen Schritt für Schritt umsetzen müsse und stets neue Probleme auftreten könnten. Es sei schließlich nicht ihre erste Erfahrung damit, "dass etwas in der Umsetzung Schwierigkeiten macht", sagt Merkel und erwähnt dann das Minsker Abkommen zur Ukraine. Da freilich ging es immerhin um Krieg und Frieden.

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