SPD und Grüne beim Parteitag:Treueschwüre aus Angst

Bundesparteitag Bündnis 90 - Grüne in Berlin

Kuscheln für's Gemeinsame: Grünen-Parteichef Cem Özdemir herzt seinen SPD-Kollegen Sigmar Gabriel (rechts) beim Parteitag der Grünen.

(Foto: action press)

SPD und Grüne beteuern, dass sie miteinander koalieren wollen. Dahinter steckt die Angst, dass keine Wechselstimmung aufkommt und dass es für Rot-Grün im Herbst nicht reichen wird. Dabei ist die Ausgangslage gar nicht schlecht. Die Debatten um Steuerhinterziehung und Nepotismus haben gezeigt: Es gibt noch die Momente, in denen sich Gelegenheiten - und sogar Chancen - bieten.

Ein Kommentar von Christoph Hickmann, Berlin

Wenn Menschen beginnen, Selbstverständlichkeiten zu wiederholen, ist Misstrauen angebracht. Im Privatleben kann man das Phänomen bei Eheleuten beobachten, die der Meinung sind, ihr Treueversprechen erneuern zu müssen. In der Politik liefern SPD und Grüne gerade ein ähnliches Schauspiel, indem sie in hoher Frequenz beteuern, miteinander koalieren zu wollen. Sigmar Gabriel hat das beim Parteitag der Grünen getan, so wie Claudia Roth zuvor bei den Sozialdemokraten. Hinter den Treueschwüren versteckt sich aber eine Botschaft der Angst.

Die Angst ist vielschichtig: dass es im Herbst für Rot-Grün nicht reichen wird; dass dann in den eigenen Reihen Fliehkräfte Richtung Schwarz-Grün oder Schwarz-Rot frei werden; oder dass es, was mancher gar nicht so schlimm fände, wieder für Schwarz-Gelb reicht. Während man versucht, die Angst wegzubeteuern, haben die ersten schon aufgegeben. Dabei ist die Ausgangslage gar nicht schlecht. Eigentlich.

Als Rot-Grün vor nicht ganz 15 Jahren an die Regierung kam, war die Republik des Kanzlers Kohl überdrüssig und hatte nicht bloß die eine und andere Reform nötig, sondern eine neue geistig-moralische Inneneinrichtung. Politiker und Politikbeurteiler nennen so etwas Wechselstimmung.

Die Bürger sind weiter als die Politik

Wenn jetzt die Rede auf die bescheidenen rot-grünen Aussichten kommt, wird schnell konstatiert, es gebe ja diesmal keine Wechselstimmung. Das ist richtig, weil eine wachsende Mehrheit die Kanzlerin nicht nur mag, sondern verehrt. Ansonsten aber, jenseits der alles überlagernden Kanzlerdominanz, gibt es eine wichtige Parallele zu 1998.

Damals klaffte in der Gesellschaftspolitik eine Lücke zwischen Gesetz und Realität. Das Volk war, etwa was gleichgeschlechtliche Partnerschaften betraf, seinen Vertretern voraus, weshalb die ersten rot-grünen Reformen nicht den Sozialsysteme galten, sondern den menschlichen Nahbereich, zu dem letztlich ja auch die Frage der Staatsangehörigkeit zählte. Diesmal, eineinhalb Jahrzehnte später, gibt es eine Lücke beim Thema Steuern, Abgaben, Staatsfinanzen. Wieder sind die Bürger weiter als die Politik.

Während Union und FDP die von SPD und Grünen geplanten Steuererhöhungen zum Umverteilungswahn erklären, findet es eine Mehrheit der Deutschen absolut richtig, den Spitzensteuersatz auf 49 Prozent zu erhöhen. Das hat soeben eine (ernstzunehmende) Umfrage ergeben, in der sich zudem eine noch deutlichere Mehrheit (72 Prozent) hinter das Vorhaben der Grünen stellte, für den Abbau der Staatsschulden Vermögensmillionäre zur Kasse zu bitten.

Das sind nicht einfach ein paar interessante Zahlen, das sind Indizien für einen Bewusstseinswandel. Noch vor vier Jahren hatte sich die FDP mit ihren Steuersenkungsversprechen auf fast 15 Prozent aufgepumpt.

Bewusstsein für Ungerechtigkeiten geschärft

Die zum Dauerzustand geronnene Großkrise hat auch in der Mitte der Gesellschaft die Vorstellung davon verändert, was der Staat leisten soll, wie er dafür ausgestattet sein muss, und vor allem: wer in welchem Maß zu dieser Ausstattung beitragen sollte. Die Krise mag, was harte Auswirkungen auf den Einzelnen betrifft, bislang an den Deutschen vorbeigegangen sein.

Sie hat aber ein Bewusstsein für Ungerechtigkeit geschärft, für Lasten, die ungleich verteilt sind. Wer in diesem Wahlkampf die Keule gegen Umverteilung herausholt, wird vielleicht noch Menschen begeistern, die ein Trennbankensystem als ersten Schritt hin zu einer bolschewistischen Weltrevolution sehen. Die Mitte wird er nicht mehr erreichen.

Gelegenheiten, die SPD und Grüne nutzen müssen

All das könnte Humus für eine Wechselstimmung sein. Dass es sie nicht gibt, liegt nicht nur an der Zuneigung der Deutschen zu ihrer Kanzlerin, es liegt auch an der SPD. Zum einen hat sie mit der Kuriositätenserie ihres Spitzenkandidaten die Vorphase des Wahlkampfs entpolitisiert. Zum anderen fehlt ihr (und ihrem Kandidaten) vier Jahre nach dem Ende der Großen Koalition die Glaubwürdigkeit, die es bräuchte, um beim Thema Gerechtigkeit hinreichend laut auftreten zu können.

Bis September wird sich an alldem nichts ändern, eine Wechselstimmung wird es nicht geben. Aber es ergeben sich Gelegenheiten, wie die Debatten über Steuerhinterziehung und Nepotismus in diesen Tagen gezeigt haben. Es sind Momente, in denen der Nebel der Nebensächlichkeiten kurz aufreißt, der sich über die deutsche Innenpolitik gelegt hat. Plötzlich leuchtet die rot-grüne Ablehnung des deutsch-schweizerischen Steuerabkommens auch denen ein, die sich vorher eher nicht so dafür interessiert haben.

Wenn es SPD und Grünen gelingt, solche Gelegenheiten zu nutzen, haben sie noch eine Chance. Und wenn nicht? Ist ihnen nicht mehr zu helfen.

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