SPD: Phantom-Politiker Mierscheid:Eine zweifelhafte Existenz

Der Bundestagsabgeordnete Jakob Maria Mierscheid wird 77 Jahre alt - im Internet wettert er gegen Westerwelle, doch die Party für das Phantom fällt aus.

Michelle Müntefering

Die Autorin Michelle Müntefering ist aktive SPD-Politikerin und mit dem ehemaligen Parteivorsitzenden Franz Müntefering verheiratet. Sie hat im Februar ein Praktikum bei der Süddeutschen Zeitung gemacht.

Der dienstälteste Abgeordnete der SPD, Jakob Maria Mierscheid, wird an diesem Montag 77 Jahre alt. Eine Geburtstagsparty wird es allerdings nicht geben.

Es wäre auch eine Sensation, würde der extrem kamerascheue Politiker erstmals auf einem Fest erscheinen. Denn das "Phantom des Bundestags", wie Mierscheid genannt wird, hat sich in der Politik zwar durchaus verdient gemacht, aber tatsächlich gesehen hat den Mann bisher noch niemand.

Einsatz für die geringelten Haubentaube

Eine ganze "Ochsentour-Parteikarriere" hat Jakob Mierscheid hinter sich. Zusammen mit Staatsmännern wie Herbert Wehner oder Helmut Kohl saß er im Bundestag, aber nie hat er es in die erste Reihe geschafft.

Obwohl er Qualitäten mitbrachte, die so manchem erfolgreichen Politiker den Weg bereiteten: Er ist in der Gewerkschaft, im Sängerbund und im Seniorenvorstand, interessiert sich für "allgemeine Sozialfragen" und widmete sich der "Aufzucht und Pflege der geringelten Haubentaube in Mitteleuropa und anderswo" ebenso hingebungsvoll wie der "Untersuchung des Nord-Süd-Gefälles im Bundesgebiet".

"Ich habe 1980 das erste Mal von ihm gehört und war ziemlich verblüfft, als mich Kollegen aufgeklärt haben, dass das ein Phantom-Abgeordneter ist", sagt Ex-Verteidigungsminister Peter Struck. "Phantom" heißt unwirkliche Erscheinung, Einbildung oder Geist.

Insofern hat Jakob Mierscheid gewisse Ähnlichkeit mit der Steinlaus, jenem Fabelwesen, das Loriot 1983 erfand. Ein fiktives Nagetier, das sich von Steinen ernährt und vom Aussterben bedroht ist. Die Steinlaus wurde zum Inbegriff des wissenschaftlichen Witzes. Sie schaffte es bis in das höchste medizinische Nachschlagewerk, den Pschyrembel.

Mierscheid schaffte es immerhin auf die Internetseite des deutschen Bundestages. Hier ist auch das einzige Foto zu sehen, das von ihm geschossen wurde. Das Bild zeigt ihn in der letzten Reihe des Bundestages, von hinten. Sonst weist auf der Bundestagsseite nichts weiter darauf hin, dass sich dieser Abgeordnete von seinen Kollegen unterscheidet.

Posthume Ehre für Carlo Schmid

Auf anderen Seiten im Internet kursiert eine weitere vergilbte Fotografie, ein angebliches Jugendfoto Mierscheids mit hochgezwirbeltem Schnauzbart und nachträglich aufgemalter Nickelbrille.

Doch die Wirklichkeit sieht so aus: Am 11. Dezember 1979 stirbt der ehemalige SPD-Abgeordnete und Staatsrechtler Carlo Schmid. Zwei Bundestagskollegen, Peter Würtz und Karl Haehser, sitzen im Restaurant des Bonner Bundeshauses. Sie betrauern den Verlust des Freundes und schaffen ihm zu Ehren einen Nachfolger.

Auf der Rückseite einer Speisekarte zeichnen sie das Bild: Mierscheid ist geboren. Er ist 44 Jahre alt, ein Schneider aus dem Hunsrück. Dietrich Sperling, damals Staatssekretär im Bundes-Bauministerium leiht ihm fortan nicht nur sein Geburtsdatum, sondern übernimmt auch seinen Schriftverkehr. Später verantwortet der technische Leiter der SPD-Bundestagsfraktion, Friedhelm Wollner, die Pflege des Phantoms.

Bis heute ist Wollner der Kopf hinter Mierscheid, dessen Lebensaufgabe es ist, die Abgeordneten von Zeit zu Zeit an das wahre Leben zu erinnern, was durchaus auch mal lustig sein darf.

1988 wird Mierscheids Vorschlag im Bundestag bekannt, das Hinterbänkler-Dasein abzuschaffen. Alle Stühle des Bundestags sollten einfach in die erste Reihe gestellt werden, schlug er vor. Damit seien fortan alle gleichberechtigt.

Briefwechsel mit Staatssekretär Kinkel

Außerdem sollten die Debatten wiederbelebt werden, indem die Abgeordneten es bei dem Satz belassen: "Ich komme zum Schluss" - und den Rest ihrer Reden einfach zu Protokoll geben.

Der damalige FDP-Staatssekretär Klaus Kinkel lässt sich gar auf einen längeren Briefwechsel mit Mierscheid ein, als dieser fordert, "alle rechtlichen Aspekte des Nord-Süd-Gefälles" müssten untersucht werden.

Kinkel erwägt in seiner schriftlichen Stellungnahme, die Grünen um "fraktionsübergreifende Amtshilfe zu bitten - und für die Untersuchungsexkursion Fahrräder zur Verfügung zu stellen".

"So einer wie Mierscheid wird gebraucht"

"So einer wie Mierscheid wird gebraucht", sagt Peter Struck. "Im politischen Alltag sind wir pragmatisch orientiert, es geht um Problembehandlung. Dass jemand da ist, der das hinterfragt, ist nötig." Struck selber habe in seiner Zeit als Fraktionsvorsitzender manches Mal gesagt: "Dazu müssen wir jetzt einen Mierscheid machen."

Denn das hat ein Phantom-Abgeordneter im Bundestag mit dem Humor in der Politik gemein. Er ist eine zweifelhafte Existenz. Sind doch Politiker jene Charaktere, die sich Dinge wie ein "Schuldenvergünstigungsabbaugesetz" oder die "Abwrackprämie" ausgedacht haben. Umso wichtiger ist ein Phänomen wie Mierscheid, die Steinlaus der SPD.

Wer sich übrigens fragt, wie das Privatleben des Phantoms aussieht, wird enttäuscht. Privates hält Mierscheid erfolgreich geheim. Er ist angeblich Witwer und Vater von vier Kindern, mehr ist nicht bekannt.

Erstaunlich ist, wie es Mierscheid auch nach mehr als dreißig Jahren immer wieder gelingt, seine Späße in der Öffentlichkeit zu platzieren. 2005 fallen seriöse Nachrichtenagenturen auf das Gerücht herein, ein Herr Mierscheid sei aus der SPD ausgetreten und wolle zur Linkspartei wechseln. Die Journalisten bemerken den Fehler erst, als die Meldung vom weiteren "Aderlass der SPD" schon öffentlich ist.

Als Mierscheid "Ulla Schmidt" als Unwort des Jahres vorschlug

Im gleichen Jahr schlägt Mierscheid "Ulla Schmidt" als Unwort des Jahres vor. Wenigstens darauf fällt kein Berichterstatter mehr rein.

Zu größerer Verwunderung führte auch das "Mierscheid-Gesetz", das besagt, an der Menge der Rohstahlproduktion in Westdeutschland ließen sich die Ergebnisse der SPD voraussagen. Erstaunlicherweise stimmte das sogar manchmal.

Zum Beispiel im Jahr 1998, als Westdeutschland 41 Millionen Tonnen Rohstahl produzierte und die SPD 40,9 Prozent der Stimmen erhielt. Oder 1987, da lagen nur 0,9 Prozent zwischen Prognose und Ergebnis.

Als Autor ist die Phantasiefigur weniger erfolgreich: Sein Manifest Das Kapital von 1967 wurde nie gedruckt, weil "einer aus der Nachbarschaft Trier genau 100 Jahre vorher das Buch schon veröffentlicht hat", wie Mierscheid bedauert. Auch "Die Reformlüge" erscheint nicht - die Titelhypothese erweist sich laut Mierscheid als falsch.

Im Internet hingegen verfolgen Tausende Leser seine Verlautbarungen, mit denen er fordert: Die geringelten Haubentauben mögen "Westerwelle bei der Hartz-IV-Diskussion aufs Hirn scheißen".

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