SPD-Mitgliederentscheid:Neustart auf wackligen Beinen

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Für die SPD ist das Ja zur großen Koalition keine politische Überlebensgarantie. Und Kanzlerin Merkel wird viel tun müssen, um doch noch das Gefühl eines Aufbruchs zu erzeugen.

Kommentar von Stefan Braun, Berlin

Aufatmen allenthalben, natürlich. Es hat doch noch gereicht, und es kann endlich losgehen. Losgehen mit einer neuen Regierung, mit einigen neuen Gesichtern, mit einer Art Neustart. Damit ist die Zeit der politischen Ungewissheit endlich vorbei. Das ist ohne Frage das Gute an dieser SPD-Mitgliederentscheidung.

Eng damit verbunden ist die Botschaft, dass Europa wieder eine verlässliche Regierung hat in Deutschland. Das ist noch nicht die große Rettung für den Kontinent. Aber es ist unverzichtbar in Zeiten, in denen US-Präsident Donald Trump mit dem Wort Handelskrieg nicht mehr nur spielt, sondern ihn tatsächlich anfängt - und Russlands Präsident Wladimir Putin immer noch mehr neue Waffen und Raketen bauen lässt, um sich und seine Nation als vermeintliche Weltmacht zu feiern.

Kein großer Sieg, aber ein Erfolg, der sich sehen lassen kann

Kurz gesagt sind die Zeiten miserabel; sie sind so schlecht wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Da ist es nicht hinreichend, aber bitter nötig, dass Deutschland wieder mit einer Bundesregierung antritt, die für ein liberales und entschlossenes Europa kämpfen möchte. Wer auch nur ein paar Minuten seinen Blick auf die Lage der Welt richtet, wird jetzt erleichtert sein. Die SPD-Anhänger haben beim Blick auf die Welt um uns herum richtig gehandelt.

Für die SPD selbst heißt das Votum vor allem, dass die wackeren Kämpfer Andrea Nahles und Olaf Scholz eine Mehrheit der kritischen Basis doch noch für sich und für diese neue Etappe gewonnen haben. Das war nicht mehr selbstverständlich nach den letzten Wochen. Deshalb ist das Ergebnis zwar kein großer Sieg, aber 66 Prozent Zustimmung sind ein Erfolg, der sich sehen lassen kann nach der großen Anstrengung.

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Gleichwohl wird dieses Votum nicht über die Zukunft der Sozialdemokratie entscheiden. Ob die SPD auf Dauer politisch überlebt, wird man erst in ein paar Jahren wissen. Zum jetzigen Zeitpunkt weiß man nur, dass die Mehrheit für ein Ja ein wichtiger erster Wegweiser sein kann.

Deshalb sollte niemand, keine Andrea Nahles, kein Olaf Scholz, kein anderes Mitglied der Führung, auch nur eine Sekunde glauben, dass mit dieser Abstimmung alle Probleme erledigt sein könnten. Das Misstrauen zwischen Basis und der SPD-Führung in Berlin ist noch immer gigantisch. Und die Ursachen dafür gehen tief.

Gigantisch ist das Misstrauen, weil vor allem Sigmar Gabriel und Martin Schulz viel Schaden angerichtet haben. Nicht aus bösem Willen, das keinesfalls. Aber sie waren am Ende unfähig, aus ihrer Position dauerhaft etwas Gutes zu machen. Gabriels Hin und Her in der Flüchtlingskrise, Schulz' Hin und Her nach der Bundestagswahl - das alles hat der Partei keine Richtung mehr gegeben, sondern sie in ein gedankliches Chaos gestürzt, das allein durch den Gang in die nächste Koalition nicht wieder weg ist.

Tief gehen die Ursachen, weil es nicht um ein, zwei, drei Entscheidungen in der Sache geht. Es geht um die Kernaufgabe einer linksliberalen Volkspartei, Antworten auf die neuen sozialen Fragen zu finden.

Und hier kommen mehrere Fragen zusammen. Für die SPD lautet die vielleicht wichtigste: Wie genau will die Partei die Spaltungen im Land überwinden? Spaltungen, die die Flüchtlingspolitik gebracht hat; Spaltungen, die sich bei denen zeigen, die sich kulturell und sozial nicht mehr ernst genommen fühlen. Und Spaltungen, die sich aus der rasanten Digitalisierung ergeben.

Hier nämlich geht es nicht nur um die schöne neue Welt der Smartphones und sozialen Medien. Es geht um dramatische Verlust- und Zukunftsängste durch eine um sich greifende Automatisierung, die ganze Berufsbilder in Frage stellt. Dass die designierte Parteichefin Andrea Nahles als Arbeitsministerin zu den wenigen zählte, die das Problem erkannt haben, spricht dafür, dass sie es auch an der Spitze der SPD ernst nimmt.

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Tut sie es nicht, kann es für die SPD auch nach diesem Ja gefährlich werden. Andere nämlich, vornehmlich die Grünen, haben den Blick längst in diese Richtung gewendet. Und sie haben zur Zeit zwei neue charismatische Figuren an ihrer Spitze, die der SPD vor allem dann bedrohlich nahe rücken könnten, wenn die Sozialdemokraten nicht anfangen, neben dem Regierungsgeschäft ganz neue Wege auszuprobieren.

Hier nun kommt Kevin Kühnert ins Spiel. Der Juso-Chef hat zwar die Abstimmung verloren. Aber er hat sich für die SPD trotzdem als neue wichtige Figur empfohlen. Wenn er es jetzt schafft, aus der Nein-Haltung etwas Neues zu bauen, in dem er mit konstruktiven Ideen aufwartet, hat er eine große Perspektive bei den Sozialdemokraten. Demokratie heißt im besten Falle, aus Niederlagen kluge Positionen zu entwickeln.

Und die Kanzlerin? Angela Merkel hat mal wieder Glück gehabt. Zorn, Unruhe, Rufe nach einem Ende der Merkel-Ära - der Kelch ist an ihr vorübergegangen. Auf ihre Sozialdemokraten ist Verlass; und das ist überhaupt nicht zynisch gemeint.

Merkel gehört zu den größten Profiteuren des SPD-Votums

Merkel ist mit Sicherheit nicht der Grund für das Ja der SPD-Mitglieder gewesen, auch wenn sie zu den größten Profiteuren gezählt werden muss. Der Mehrheit der SPD-Basis hat sie es zu verdanken, dass ihr eine schwierige Debatte im eigenen Landen erspart bleibt. Und sie bekommt aller Voraussicht nach ziemlich viele vernünftige Ministerinnen und Minister an ihre Seite. Merkel sollte sich nicht beklagen, sie sollte der SPD heimlich und ausführlich danken.

Hätte die Partei Nein gerufen, wäre es auch für Merkel eine Blamage geworden. Und dann wäre noch einmal die Frage aufgekommen, ob sie wirklich die Richtige wäre für eine Neuauflage des Wahlkampfs. Dass sie und dass ihre Mitstreiter in der CDU das genau wussten, zeigte das Manöver um die Saarländerin Annegret Kramp-Karrenbauer.

Es war die Entscheidung der Saarländerin, mit der sie Merkel schon ein paar Tage vor dem SPD-Entscheid aus der größten Patsche geholfen hat. Sie ist es (und nicht Merkels cleveres Kalkül), die dem über viele Jahre eher langweiligen Amt des Generalsekretärs neuen Charme und neue Wucht verleiht. Sie ist es, die mit einem Schlag die Rolle in der Partei interessanter macht als einen Ministerposten; und sie ist es, die mit einem Schlag klargemacht hat, dass die CDU nicht länger ohne Merkel-Nachfolgerin da steht.

Eine erleichterte SPD-Führung, eine glückliche Angela Merkel und ein Europa, das aufatmen darf - das ist die Lage an diesem 4. März 2018.

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