SPD-Kanzlerkandidat Steinmeier:Sieger sehen anders aus

Wie langweilig ist der Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier? Und wie kurzweilig sind seine Widersacher und seine Genossen?

Benjamin Henrichs

Erstes Kapitel: Der Vater

frank walter steinmeier spd kanzlerkandidat getty

Kann er Kanzler? SPD-Kandidat Steinmeier

(Foto: Foto: Getty)

Am Anfang spricht er über die Tochter, er tut es mit diskreter Innigkeit: Merit ist ihr Name, Merit Steinmeier, 13 Jahre alt.

Der Kanzlerkandidat ist zu Gast beim Talkmaster Reinhold Beckmann, und die beiden Männer und Väter, beide Jahrgang 1956, bereden den Amoklauf an der Schule von Winnenden. Ja, sagt Steinmeier, natürlich habe man daheim mit der Tochter über das Ereignis gesprochen, auch über das Thema Computerspiele, über Ego-Shooter und Counterstrike.

Steinmeier, so denkt nun der Fernsehzuschauer, hat also eine Tochter, Merit, das ist ja wirklich eine Neuigkeit! Man staunt ja immer wieder, wenn man merkt, dass es bei den Berufspolitikern ein Leben außerhalb der Politik gibt, und im Fall Steinmeier staunt man ganz besonders. Hat man denn jemals ein Bild von Frau Steinmeier oder gar Tochter Steinmeier in den Gazetten gesehen? Wahrscheinlich nicht, und wenn doch, so hat man es gleich wieder vergessen.

Inszenierung einer Metamorphose

Der Zuschauer also staunt, und dieses Staunen ist ganz im Sinne des Kandidaten. Mit dem Auftritt bei Beckmann, einige Wochen ist das nun her, begann das Schauspiel, die Inszenierung einer Metamorphose: Der Kandidat Steinmeier soll sich vor unseren Augen in Steinmeier, den künftigen Kanzler, verwandeln.

Das heißt, aus dem ewigen, oft unsichtbaren Zweiten, dem Mann hinter Schröder, dem Mann neben Merkel, muss nun mit aller Macht ein Mann der ersten Reihe werden. Wenn dieses Verwandlungskunststück nicht gelingt, kann man die Wahl gleich verlorengeben, muss man mit dem Wahlkampf gar nicht beginnen.

19. April 2009: Wahlkonvent der SPD im Berliner Tempodrom. Wieder wird, für ein paar Augenblicke, der Wahlkampf zum Familienstück uminszeniert. Frank-Walter Steinmeier betritt die Bühne, Seite an Seite mit Gemahlin Elke.

Dies soll natürlich Erinnerungen wecken an den amerikanischen Wahlkampf und an das Obama-Wunder, damals, 2008. Dem nun, woran allerdings niemand so recht glaubt, das deutsche Steinmeier-Wunder folgen soll. Die Tochter Merit, dies darf man dankbar festhalten, muss allerdings nicht auf die Berliner Bühne.

Wir kennen nun also ein wenig Steinmeier, den Vater, und Steinmeier, den Ehemann. Das Problem ist nur: Steinmeier selber, den kennen wir immer noch nicht. Und es könnte passieren, dass wir ihn am Wahltag im September, wenn es das Kreuz zu machen gilt, noch immer nicht kennen. Der Mann ist ein Rätsel, und man weiß nicht einmal, ob man denn Lust hat, es zu lösen.

Verzweifelte Suche nach etwas Exzessivem

Zweites Kapitel: Der Unbekannte

merkel anne will

Angela Merkel bei "Anne Will"

(Foto: Foto: NDR/AP)

Ein paar Tage nach Steinmeiers Auftritt bei Beckmann beschäftigt sich die ZDF-Sendung "Berlin direkt" mit den Ängsten und Nöten der Sozialdemokraten. Zu Wort kommt hierbei auch der Politologe Franz Walter, der über Frank-Walter Steinmeier sagt: "Sie suchen bei ihrem Kandidaten verzweifelt nach etwas Spannendem und Exzessivem. Sie finden aber nichts."

Das ist das ewige, wenig anmutige Thema, das alle Steinmeier-Deutungen in diesem Wahlkampf variieren: Der Mann ist ein Langweiler, und so, wie es aussieht, ein wahrscheinlich unheilbarer.

Dies aber, so paradox es klingen mag, ist ein interessanter Fall - und ein guter Grund, sich die DVD mit dem Zweipersonenstück "Steinmeier bei Beckmann" noch einmal und im Detail anzusehen. Denn aus der Literatur, dem Kino, dem Schauspielhaus wissen wir, dass der Schein immer trügt, dass es den langweiligen Menschen gar nicht gibt. Man muss nur lange genug hinschauen.

Die Lage ist natürlich immer ernst, und in diesen Zeiten ganz besonders, aber die beiden Männer vom Jahrgang 1956 lächeln viel in der guten Stunde ihres Zusammentreffens. Aber jeder lächelt auf seine Art: Der Talkmaster hat dieses offene, alterslose Knabenlächeln, das Lächeln des Kandidaten bleibt immer verhangen.

Auch das ist natürlich eine stille Steinmeier-Botschaft: Ich bin kein Entertainer, sagt der Auftritt, sondern ein Verantwortungsträger. Das Leben ist kein Spiel und keine Talkshow. Es ist Steinmeiers erster Gewinnpunkt, dass er in einer populären Unterhaltungssendung keine Anstalten macht, auf irgendeine Weise unterhaltsam zu sein.

Hochdramatische Sätze im Ton eines Buchhalters

Natürlich lobt er sich, wie alle Politiker, unaufhörlich selber. Bescheinigt sich Gelassenheit auch in schwierigen Situationen, also "ausreichende Nervenstärke" fürs angestrebte, nervenzehrende Amt. Aber er tut dies immer piano, in einem leicht einschläfernden Dauerkammerton. Er sagt hochdramatische Sätze zum Kollaps des entfesselten Kapitalismus ("Eine Weltanschauung ist bankrottgegangen"), aber auch das tut er nicht im Ton des Anklägers oder politischen Predigers, sondern mit der Sachlichkeit eines Bilanzbuchhalters.

Wer Steinmeiers Erörterungen eine Stunde lang lauscht, der wird auch nicht eine Minute lang gebannt oder gar bezaubert. Es wird in den Wortgebilden des Kandidaten niemals ganz dunkel, niemals ganz hell, aber es regiert auch niemals der Zauber der Dämmerung.

Wenn Steinmeier spricht, ist immer hellgrauer Vormittag, kein Sonnenschein in Sicht und kein Gewitter. Oder anders gesagt: Die Sprache ist die fleißige Mitarbeiterin des Politikers, nicht seine Feindin, aber leider auch niemals seine Geliebte.

Das ist vertrauenerweckend, aber eben auch ermüdend - weshalb der Fernsehzuschauer nach etwa fünfzig Minuten Talk ohne Show das Einschlafen und Ersterben seiner Neugier verspürt. Das ist der bedenkliche Augenblick, in welchem sich das Fernsehzimmer in eine Art Wartezimmer oder auch Schulzimmer verwandelt: Wann, bitte, ist die Stunde zu Ende?

Der Unbekannte, den wir schon lange kennen

Dramatisches oder wenigstens diskret Dramatisches passiert nun nicht mehr - sieht man davon ab, dass Beckmann die Wassergläser nachfüllt und dass Steinmeiers Manschetten beim Reden leise auf der Tischplatte aufschlagen.

Wenn der Dialog dann vorbei ist, denkt man, dass Steinmeier am Ende der Sendung, nach immerhin 73 Minuten, noch genauso unbekannt ist wie an deren Anfang. Und man fragt sich, ob das ein Grund sein könnte, ihn zum Bundeskanzler zu wählen. Rätselhaft.

Aber vielleicht ist Steinmeier ja kein langweiliger, sondern ein geradezu seltsamer, ja abgründiger Fall. Vielleicht ist er der Unbekannte, den wir schon lange kennen. Man trifft ja diese spezifische Mischung aus Diskretion und Sachverstand immer dort, wo das Leben zwar nicht tobt, aber auf angenehme Weise gelingt.

Vielleicht ist Steinmeier der Mann, der uns als Herrenausstatter vom Kauf einer zweifelhaften Krawatte oder einer kneifenden Hose abgehalten hat. Vielleicht ist Steinmeier der Mann, dem wir auch in der Finanzkrise unser sauer Erspartes bedenkenlos anvertrauen würden.

Steinmeier und die Dichter

Und vielleicht haben wir Steinmeier sogar im Kino oder im Theater schon oftmals gesehen: Er spielt dort natürlich nicht die Könige in den Königsdramen, nicht die Despoten, Dämonen, Egomanen, sondern die Rollen in der zweiten Reihe, ohne die keine Geschichte funktioniert.

Also Horatio, den klugen Freund des schwermütigen Prinzen Hamlet. Oder Kent, den treuen Gefährten des irre gewordenen Königs Lear. Oder den immer bedächtigen Bruder des allzeit cholerischen Misanthropen bei Molière.

Die eitlen Stückeschreiber machen solche vernünftigen, guten Männer leider niemals zu den Helden ihrer Stücke, brauchen und missbrauchen sie immer nur als wackere Helfer. Und wenn nicht alles täuscht, dann verhalten sich die deutschen Wähler im Fall Steinmeier nicht anders als die dramatischen Dichter.

Auftritt der Tarnkappenkanzlerin

Drittes Kapitel: Die Mutter

Elke Büdenbender steinmeier

Eheleute Büdenbender/Steinmeier

(Foto: Foto: dpa)

Nur wenige Tage nach dem Kanzlerkandidaten hat auch die Kanzlerin ihren großen Soloauftritt: Auf 73 Minuten Steinmeier bei Beckmann folgen 59 Minuten Merkel bei Anne Will. "Sind Sie die Richtige für Ihr Amt?", fragt sogleich forsch die Journalistin. "Ich glaube schon" ist die kurze, lässige Antwort.

Angela Merkels Performance ist nicht auffallend interessanter, ihre Redekunst ist nicht glanzvoller als die ihres Herausforderers. Aber eines spürt man schon in der ersten Minute: Sie kann so langweilig reden, wie sie will, eine Langweilerin wird sie dennoch nie.

Sie hat die biographische Gnade, immer, auch in ihren fadesten Momenten, eine Sensation zu sein: die erste Frau auf dem Kanzlerthron, die Frau aus dem Osten.

Frau Will versucht einen Angriff: Man könne sich doch als Kanzlerin nicht immer nur verstecken. Man müsse doch auch einmal zeigen, wo und wofür man steht. Angela Merkel könnte nun schwungvoll oder auch beleidigt widersprechen, den Angriff mit einem Gegenangriff parieren, aber das ist nicht ihr Kampfstil.

Sie reagiert auf die herben Vorhaltungen nachsichtig, beschwichtigend, mütterlich. Sie wehrt sich nicht, sie weicht ins Nebulöse aus. Die Undeutlichkeit ist ihr Problem, aber auch ihre Waffe: Sie ist die Tarnkappenkanzlerin.

Man spielt nun Frau Merkel einen grimmigen Satz Schäubles über Steinmeier vor: Dessen Opel-Rede sei "versuchter Betrug" gewesen. Jetzt muss sie doch etwas sagen! Aber auch dieser brisanten Situation entkommt sie auf dem Schleichwege, entweicht still ins Vage.

Politik als eine Art Hausarbeit

Und der Zuschauer ahnt, worin Merkels spezifische Regierungstechnik besteht: Man löst Krisen, indem man sie ignoriert. Steinmeier ist auch in seinen stärksten Momenten immer noch: ein Bürokrat. Merkel bleibt noch in ihren schwächsten Augenblicken: eine Entschärfungsvirtuosin.

Dies ist eine zutiefst mütterliche Qualität, und insofern ist Merkels Berliner Spitzname "Mutti" hochverdient. Politik, so besehen, ist weniger ein heroischer Jahrhundertkampf um Visionen als eine Art Hausarbeit: Tag für Tag wegarbeiten, was zu tun ist. Und den immer gefährdeten Familienfrieden verteidigen, Stunde um Stunde, gegen die notorische Rauflust der männlichen Ego-Shooter.

Steinmeier kann reden und tun, was er will: Die Kanzlerin hat ihre Rolle gefunden, der Kandidat sucht sie noch.

Viertes Kapitel: Der Häuptling

Fußball ist immer gut, der Fußball ist eine Schule des Lebens. Franz Müntefering ist zu Gast bei Peter Frey in der ZDF-Sendung "Berlin direkt", und als man ihn nach dem Zusammenspiel zwischen dem Parteivorsitzenden und dem Kanzlerkandidaten fragt, sagt er es so: "Ich versiche, den Ball so zu flanken, dass der Mittelstürmer ihn reinhauen kann."

Toll. Erst, als die Sendung lange vorbei ist, ahnt man, dass der tolle Münte-Satz wahrscheinlich ein Unsinn ist. Denn anders als der Spieler Gerd "Acker" Schröder vom sagenhaften TuS Talle ist der Spieler Steinmeier aus Brakelsiek kein Mittelstürmer, Torjäger, Reinhauer, Knipser. Sondern eher der klassische, fleißige, immer etwas farblose Mittelfeldmann. Nicht Seeler, sondern Ramelow.

Münte, der Magier der kurzen Sätze

Aber egal: Noch Münteferings Unsinn ist ein deutlich größeres Vergnügen als Steinmeiers Sinn. Der Vorsitzende ist heute, in der Abenddämmerung seiner politischen Karriere, zum Magier der kurzen Sätze geworden.

Wie die großen Alten der Republik vormals, wie Adenauer ("Je einfacher denken ist eine Gabe Gottes"), wie Herberger ("Das nächste Spiel ist immer das schwerste"). Redet Müntefering, meint man, im Hintergrund das Lagerfeuer knistern zu hören: So spricht der alte Häuptling der Indianer!

Steinmeier sucht. Müntefering ist angekommen. Er hat das Charisma des Mannes, der nichts mehr werden muss. Der nicht mehr siegen, vom Sieg nur noch reden muss. Vom Sieg der SPD, an den er vermutlich keine Sekunde lang glaubt. "Die edelste Nation unter allen Nationen", schrieb Johann Nepomuk Nestroy, "das ist die Resignation."

Bräuchte diese Nation einen Bundeskanzler, Müntefering wäre der beste Mann.

Steinmeier, übernehmen Sie!

Fünftes Kapitel: Der Profi

Der Wahlkampf ist auch eine Komödie, in der jeder tapfer die ihm zugefallene Rolle spielt - und darauf hofft, nicht als Fehlbesetzung entlarvt zu werden.

Peer Steinbrück zum Beispiel gibt mit Hingabe den rauen Kerl, der niemals schönredet, der allen immer die Wahrheit sagt, auch wenn sie bitter ist. Horst Seehofer gefällt sich in der Partie des zünftigen Rüpels, und Guido Westerwelle probiert schon erkennbar den Rollenwechsel, vom allzeit schrillen Neoliberalen zum diskreten Diplomaten, demnächst im Auswärtigen Amt.

Steinmeier aber sucht immer noch. Denn er hat wohl schnell erkannt, dass er sich als der deutsche Obama oder als röhrender Neo-Schröder nur lächerlich machen kann. Was aber dann?

Goethe, der Dichter und Minister war, hat im "Torquato Tasso" einen Weg gewiesen: "Willst du genau erfahren, was sich ziemt, so frage nur bei edlen Frauen an!"

Die edle Frau in unserer Geschichte, das kann nur Elke Büdenbender sein, Juristin und verehelichte Steinmeier. In einem Gespräch mit Bild ("Darum ist mein Frank der bessere Kanzler!") hat sie enthüllt, welchen Rat sie dem Gatten manchmal gibt: "Sei einfach du selbst!"

Ganz einfach?

Es gibt ja in der Politik nichts Komplizierteres, als einfach man selbst zu sein. Das hieße für Steinmeier, alle Versuche, die lästige Rolle des Langweilers doch noch loszuwerden, zu beenden. Sie, im Gegenteil, frohen Herzens anzunehmen.

Denn in Zeiten der Verwirrung und Verzweiflung hat der Wähler vielleicht gar kein Verlangen nach den Visionären und den Charismatikern, den Demagogen und den Entertainern. Je schwieriger die Situation wird, desto größer wird der Zauber des Sachverstands, die Magie des Profis.

In den Kriminalstücken des Kinos und des Fernsehens kennt und liebt man diesen Typ: den scheinbar unscheinbaren, biederen Kommissar, der aber noch bei den heikelsten Fällen immer die Übersicht und die Nerven behält.

Den einsamen Könner unter lauter Amateuren und Halbamateuren.Vielleicht sagt der Wähler, wenn er im Wahljahr in den Abgrund blickt, am Ende dann doch noch: Steinmeier, übernehmen Sie!

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