SPD: Hans-Jochen Vogel:"Grüne stehen für die Prägekraft der Demokratie"

Der frühere SPD-Parteichef Hans-Jochen Vogel über den Zustand der Partei, die Vorzüge seines Nachfolgers Sigmar Gabriel und warum die Stärke der Grünen ganz in Ordnung ist.

Thorsten Denkler

Ein Jahr nach ihrem Wahldebakel bei der Bundestagswahl will die SPD am heutigen Sonntag auf einem Sonderparteitag in Berlin über ihren weiteren Kurs beraten. Parteichef Sigmar Gabriel legt in einer Grundsatzrede Leitlinien für die Zeit bis zur Bundestagswahl 2013 vor. Im Mittelpunkt des eintägigen Kongresses steht die Wirtschafts- und Steuerpolitik. Vor dem Parteitag sprach sueddeutsche.de mit dem früheren Parteichef Hans-Jochen Vogel, 84. Der Jurist hatte viele öffentliche Ämter inne: Zum Beispiel war er Oberbürgermeister von München (1960 bis 1972), Bundesminister für Bauen (bis 1974) und Bundesjustizminister (bis 1991).

Hans-Jochen Vogel ueber den 9. November und die Notwendigkeit des Erinnerns

Hans-Jochen Vogel: Das Thema "Soziale Gerechtigkeit" muss wieder ganz oben auf die Tagesordnung.

(Foto: ddp)

sueddeutsche.de: Herr Vogel, die SPD wirkt heute wie eingeklemmt zwischen der Linken auf der einen und den immer stärker werdenden Grünen auf der anderen Seite. Ist die SPD in der Gefahr, zerrieben zu werden?

Hans-Jochen Vogel: Ob der Begriff "eingeklemmt" zutrifft - ich würde das nicht so sehen. Die Linke ist ein Problem, das uns ständig beschäftigen wird. Wobei ich deutlich unterscheide, zwischen der Linken in den neuen Bundesländern und der Linken im Westen. Im Osten hat sie sich verantwortungsvoll an Koalitionen beteiligt. Im Berliner Senat macht sie zum Teil Politik im Gegensatz zu dem, was die Linke auf Bundesebene proklamiert. Im Westen ist dagegen noch nicht näher überschaubar, was sich da zusammengefunden hat.

sueddeutsche.de: Wie erklären Sie sich die neue Stärke der Grünen?

Vogel: Wenn ich mich an die Grünen erinnere, die 1983 in den Bundestag eingezogen sind, und heute sehe, wie und welche Personen in der Partei Verantwortung übernehmen, dann ist die Entwicklung der Grünen ein Zeichen für die Prägekraft der Demokratie. Ich sähe es natürlich lieber, wenn die SPD noch stärker dastünde. Aber die Grünen sind die Partei, die von uns in erster Linie als Koalitionspartner für die Bundesebene gesehen wird.

sueddeutsche.de: Wird es der SPD jemals wieder möglich sein, Wahlergebnisse jenseits der 40-Prozent-Marke zu erreichen?

Vogel: Das ist ein Problem der beiden Volksparteien. Die Milieus haben sich aufgelöst, die Individualisierung nimmt zu - was ich nicht bedauere - und die Stammwählerschaft schrumpft. Durch das größer gewordene Parteiensystem ist die Wählerschaft auch viel mobiler geworden. Insofern sind 40 Prozent ein hoch angesetztes Ziel.

sueddeutsche.de: Ist die Partei denn auf dem richtigen Weg nach dem desaströsen Wahlergebnis von 2009?

Vogel: Ich habe da nichts zu kritisieren. Ich betone nur, dass wir als SPD den Grundwert der sozialen Gerechtigkeit immer wieder ganz oben auf die Tagesordnung setzen müssen. Soziale Gerechtigkeit ist die Voraussetzung für den Zusammenhalt der Gesellschaft.

"Die Kommunikation war falsch"

sueddeutsche.de: Viele einstige SPD-Anhänger haben die Agenda 2010 mit den Hartz-Gesetzen und die Rente mit 67 als massiven Vertrauensbruch empfunden. Sie glauben nicht mehr, dass die SPD sich kompromisslos für die soziale Gerechtigkeit einsetzt. Kann dieser Vertrauensverlust wiedergutgemacht werden?

Vogel: Ich will an dieser Stelle sagen: Die Agenda 2010 hat auch positive Elemente.

sueddeutsche.de: Was den Vertrauensverlust nicht verhindert hat. Hilft es, ein wenig an der Rente mit 67 herumzudoktern?

Vogel: Zunächst: Man muss dem allgemeinen Missverständnis entgegentreten, die Agenda 2010 sei schlecht gewesen für die Gesellschaft. Wenn man, von Details abgesehen, einen Fehler sehen muss, dann war es die Kommunikation. Wir haben den Menschen nicht eine längere Phase der Diskussion ermöglicht, damit die Zusammenhänge deutlicher erkennbar werden. Was jetzt an kleineren Änderungen vorgenommen wird, das halte ich für durchaus diskutabel.

sueddeutsche.de: Wie aber kann die SPD Vertrauen wiedergewinnen?

Vogel: Nur, indem die Menschen an der Meinungsbildung beteiligt werden. Das geschieht unter der Führung von Sigmar Gabriel. Wir dürfen nicht müde werden, die Zusammenhänge zu erklären. Ferdinand Lassalle...

sueddeutsche.de: ... einer der Gründerväter der deutschen Sozialdemokratie...

Vogel: ...hat einmal gesagt, jede Politik beginnt mit dem Aussprechen dessen, was ist. Und nicht mit der Schönrednerei. Wichtig ist auch, dass von den Personen, die die SPD repräsentieren, ein Gefühl der Glaubwürdigkeit und des Vertrauens ausgeht. Voraussetzung dafür ist eine gewisse Beständigkeit. Der ständige Wechsel in Funktionen erschwert das. Das scheint aber jetzt mit Sigmar Gabriel an der Spitze überwunden zu sein.

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