SPD-Debakel in Hessen:Die Fetzen fliegen

Jürgen Walter tritt als SPD-Vize ab, Ortsvereine beantragen den Parteiausschluss aller vier Abweichler und eine Abgeordnete spricht von Bestechung. Neuwahlen in Hessen werden immer wahrscheinlicher.

Der stellvertretende Vorsitzende der Hessen-SPD, Jürgen Walter, hat dieses Amt mit sofortiger Wirkung niedergelegt. Walter habe kurz nach 18 Uhr ein entsprechendes Schreiben an die Landesgeschäftsstelle gesandt, bestätigte ein Sprecher der SPD-Fraktion in Wiesbaden. Walter schreibe darin, dass er damit den entsprechenden Forderungen aus der Partei nachkomme.

SPD-Debakel in Hessen: Metzger, Walter, Tesch und Everts haben den Zorn vieler Genossen auf sich gezogen

Metzger, Walter, Tesch und Everts haben den Zorn vieler Genossen auf sich gezogen

(Foto: Foto: dpa)

Alle vier abtrünnigen SPD-Landtagsabgeordneten in Hessen sind innerparteilich unter heftigem Beschuss. Beim Bezirk Hessen-Süd liegen bisher sechs Anträge auf Parteiausschluss von Walter, Dagmar Metzger, Silke Tesch und Carmen Everts vor. "Das Verhalten dieser vier Genossen ist eindeutig parteischädigend", hieß es etwa in dem entsprechenden Antrag an das Schiedsgericht des SPD-Bezirks Hessen Süd zur Begründung.

Die hessische SPD-Bundestagsabgeordnete Helga Lopez erhob sogar indirekt den Verdacht einer Bestechlichkeit der vier Abweichler. "Ich hätte nicht erwartet, dass die mächtige Energiewirtschaft doch noch siegt", sagte sie der Wetzlarer Neuen Zeitung. "Vielleicht stimmen die Silberlinge ja", wird Lopez weiter zitiert.

Bereits am Montag hatte der Darmstädter Vorsitzende der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen, Horst Raupp, einen Ausschlussantrag gegen Jürgen Walter, Dagmar Metzger, Carmen Everts und Silke Tesch angekündigt.

Everts stellt Ämter zur Verfügung

Fraktionsgeschäftsführer Reinhard Kahl erklärte dagegen der Onlineausgabe der Financial Times Deutschland, die vier würden nicht aus der Landtagsfraktion ausgeschlossen. Diese Frage stelle sich nicht.

Wie inzwischen bekannt wurde, hat Carmen Everts inzwischen bereits Konsequenzen gezogen und verzichtet auf alle Parteiämter in Kreis, Stadtverband und Ortsverein. Ihr Landtagsmandat wolle sie aber noch bis zum Ende der Legislaturperiode behalten, teilte die bisherige SPD-Kreisvorsitzende in Groß-Gerau mit. Das Kreistagsmandat stelle sie zur Verfügung.

Konsequenzen für die Beleidigung "hinterlistige Schweine" gefordert

Nach harten Äußerungen über die vier Abweichler hat Parlamentspräsident Norbert Kartmann (CDU) seinem Stellvertreter Hermann Schaus (Linke) einen Rücktritt nahegelegt. Schaus hatte die vier Abgeordneten als "hinterlistige Schweine" bezeichnet. Kartmann schrieb in einem offenen Brief an Schaus, die Äußerung sei eine Beleidigung und dem Verhalten eines Vizepräsidenten unwürdig: "In dieser Situation ist für mich fraglich, wie Sie dieses Haus weiterhin als Vizepräsident nach außen und innen vertreten können."

Die Fraktionen von CDU und FDP schlossen sich der Forderung an. Schaus entschuldigte sich am Dienstag schriftlich bei den vier SPD-Parlamentariern. Er bedauere seine Wortwahl, erklärte der Linken-Politiker: "Ich wollte dadurch meine Betroffenheit und meine tiefste Empörung über Ihre Handlungsweise zum Ausdruck bringen. Keinesfalls war und ist es meine Absicht, Sie als Person herabzusetzen oder herabzuwürdigen."

"Erste schwere Niederlage für Müntefering"

Der SPD-Bundesvorsitzende Franz Müntefering rief die hessischen Sozialdemokraten auf, gemeinsam einen Weg aus der Krise zu finden. Im ZDF bezeichnete er Ypsilanti als "tüchtige Politikerin". Er warf ihr aber auch Fehler vor: "Man darf vor der Wahl nicht solche Dinge versprechen, wenn man sie hinterher nicht halten kann oder halten will. Das war ganz sicher ein Fehler."

In Berlin kündigte Müntefering ein Gespräch mit der hessischen SPD-Spitze über das weitere politische Vorgehen in dem Bundesland an. Das Treffen sei bereits terminiert. Dabei werde man "miteinander darüber reden, was man jetzt wie tun kann, um da neu aufzubauen und neues Vertrauen bei den Menschen zu gewinnen".

Das Hessen-Debakel ist nach Ansicht von CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla die "erste schwere Niederlage" für den neuen SPD-Bundesvorsitzenden. "Franz Müntefering hätte die Aufgabe gehabt, in Hessen für eine klare Position einzutreten. Das hat er nicht getan", sagte Pofalla der Südwest Presse.

Er warf Müntefering vor, der hessischen SPD- Landeschefin Andrea Ypsilanti "noch am Montag früh die Daumen gedrückt" zu haben für einen rot-grünen Machtwechsel mit Hilfe der Linkspartei. "Das ist seine erste schwere Niederlage nach seiner Rückkehr in das Amt des SPD-Vorsitzenden."

Trotz der Ereignisse in Hessen sieht Pofalla in der großen Koalition noch eine Vertrauensbasis. "Wir haben den Auftrag, bis September 2009 gemeinsam zu regieren. Die Bewältigung der Bankenkrise hat gezeigt, dass die große Koalition in der Lage war, schnell und umfassend zu reagieren."

Die SPD-Bundespräsidentschaftskandidatin Gesine Schwan sieht trotz der erneut gescheiterten Pläne von Andrea Ypsilanti eine politische Zukunft für die hessische SPD-Chefin. "Ich glaube nicht, dass es das für sie war", sagte Schwan im RBB. "Wenn man in der Politik arbeitet, muss man wissen, dass vieles nicht zustande kommt. Aber meine Erfahrung in 45 Jahren Politik hat mich auch gelehrt, dass in der Zukunft noch ganz andere Wege möglich sind."

Trittin vermisst Professionalität

Grünen-Fraktionsvize Jürgen Trittin sieht nach dem Scheitern der rot-grünen Koalition in Hessen nun auch geringere Chancen für ein Bündnis mit der SPD auf Bundesebene. Die SPD befinde sich "in einem Richtungsstreit, der sie nur schwer handlungsfähig macht", sagte Trittin der Frankfurter Rundschau. Damit seien bei der Bundestagswahl "eher die Weichen für eine Fortsetzung der großen Koalition gestellt".

Trittin kritisierte die hessischen Sozialdemokraten: "Wir würden uns von der SPD jenes Maß an Professionalität wünschen, dass sie bei uns vor 15 Jahren immer eingeklagt hat." Dass es der Landesvorsitzenden Andrea Ypsilanti nicht gelungen sei, die unterschiedlichen Strömungen der Partei einzubinden, sei kein Zeichen von Führungsstärke.

Auf der zweiten Seite lesen Sie, was Linkspartei-Chef Lafontaine zum Hessen-Debakel zu sagen hat - und wie Neuwahlen immer wahrscheinlicher werden.

Die Fetzen fliegen

Lafontaine: "Beim Wort Linke steht die Moral auf einmal Kopf in Deutschland"

Der Linkspartei-Vorsitzende Oskar Lafontaine hat mit Blick auf den gescheiterten Machtwechsel in Hessen eine Doppelmoral in Politik und Öffentlichkeit beim Umgang mit Wahlaussagen beklagt. Alle Parteien könnten sich folgenlos nach einer Wahl anders verhalten als im Wahlkampf angekündigt, sagte Lafontaine in Berlin.

"Nur wenn das Wort Die Linke fällt, steht die Moral auf einmal Kopf in Deutschland." So seien die Grünen in Hamburg nach der Bürgerschaftswahl im Februar in eine Regierung mit der CDU eingetreten. In Hessen sei die SPD-Vorsitzende Andrea Ypsilanti nicht an Wortbruch gescheitert, sondern daran, dass einige Sozialdemokraten keine Veränderung der Politik wie die Abschaffung von Studiengebühren wollten. Für die Sozialdemokraten seien die Vorgänge in Hessen "ein weiterer schwerer Rückschlag", sagte der frühere SPD-Chef Lafontaine.

Immer mehr Zeichen deuten auf Neuwahl

Unterdessen mehren sich die Zeichen für eine Neuwahl. Bei den Grünen, von denen die entscheidenden Stimmen kommen könnten, sprachen sich Landtagsfraktion und Landesvorstand am Montagabend für die baldige Auflösung des Landtags aus. Als Termine waren am Dienstag in Wiesbaden der 18. Januar oder der 8. Februar im Gespräch. Im Landtag berieten die Fraktionen von FDP, Grünen und Linkspartei über die Lage. Bei der CDU gabe es nach Angaben einer Sprecherin keine offiziellen Gremiensitzungen.

Die Union rechnet sich bei Neuwahlen Zugewinne aus. "Wir haben sicher bessere Chancen als vorher", sagte ihr Vize-Landesvorsitzender und Innenminister Volker Bouffier im Bayerischen Rundfunk. Bis zur nächsten Landtagssitzung am 18. November müsse klar sein, ob das Parlament eine neue Regierung bilden könne oder sich auflöse.

Die SPD reagierte zurückhaltend auf die Forderung nach Neuwahlen. Die SPD werde jetzt keine überstürzten Entscheidungen treffen, erklärte Generalsekretär Norbert Schmitt in Wiesbaden. "Nach diesem menschlich und politisch enttäuschenden Verhalten von vier Abgeordneten muss die neue Situation nunmehr ruhig und besonnen analysiert und besprochen werden. Dafür nehmen wir uns die notwendige Zeit."

Schmitt warf den Abweichlern vor, sich in "maßloser Selbstüberschätzung" über das Votum des Parteitags hinwegzusetzen. Sie könnten der hessischen SPD aber nicht das Rückgrat brechen.

Um Neuwahlen herbeizuführen, kann sich der Wiesbadener Landtag einfach selbst auflösen. Dazu ist nach Artikel 80 der hessischen Verfassung die absolute Mehrheit seiner Mitglieder erforderlich. Also müssten neben CDU und FDP mindestens auch die Grünen zustimmen, deren Landesvorstand sich aber am späten Montagabend auch dafür ausgesprochen hat. Die Neuwahl würde dann nach Artikel 81 der Landesverfassung binnen 60 Tagen stattfinden.

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