Soziologe zur AfD:Erwachen aus wutgetränkter Apathie

Cottbus Demonstrationen im Stadtgebiet Am Dienstag fanden in der Innenstadt von Cottbus zwei Versa

Das "Volk" hat die Schnauze voll - Anhänger von Pegida und der AfD in Cottbus.

(Foto: imago/lausitznews.de)

Was der Kapitalismus mit dem Wahlerfolg der AfD zu tun hat - und warum ihre Anhänger einen "autoritären Nationalradikalismus" vertreten. Ein Gespräch mit dem Soziologen Wilhelm Heitmeyer.

Interview von Markus C. Schulte von Drach

Wilhelm Heitmeyer, 72, war bis 2013 Direktor des Institus für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld. Seit den 80er Jahren untersuchte er Rechtsextremismus, von 2002 bis 2012 lief seine Langzeitstudie zur "gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit".

SZ: 12,6 Prozent der Wählerstimmen für die AfD, Rechte ziehen wieder in den Bundestag ein. Es ist die Rede von einem Rechtsruck in Deutschland. Der Erfolg der AfD dürfte Sie nicht überrascht haben?

Wilhelm Heitmeyer: Das ist kein plötzlich eintretendes Ereignis. Ich habe bereits 2001 vor einer Entwicklung gewarnt, deren Gewinner ein rabiater Rechtspopulismus sein würde. Unsere These war damals: Mit Hilfe der Globalisierung breitet sich ein autoritärer Kapitalismus aus, der einen erheblichen Kontrollgewinn über die Gesellschaft erzielt. Zugleich führt er zu einem Verlust der Kontrolle nationalstaatlicher Politik.

In Teilen der Bevölkerung wird es außerdem so wahrgenommen, dass sie auch selbst Kontrolle verlieren - über die eigene Biografie, und auch über die Politik. Das führt bei ihnen zu einer Demokratie-Entleerung und zu Desintegration. Dadurch wächst die Gefahr, dass diese Menschen ihr Heil bei den Rechten suchen, die ihnen versprechen, ihnen die Kontrolle zurückzugeben. Wie das Wahlergebnis zeigt, lagen wir mit unserer These wohl nicht ganz falsch.

Wir sollten zunächst einige Begriffe klären: Was meinen Sie mit "autoritärem Kapitalismus" und inwiefern beeinflusst er die Politik?

Internationale Unternehmen können seit Langem - und zwar auch politisch unterstützt durch die Deregulierungs-Doktrin - ihre Interessen gegen Regierungen durchsetzen, zum Beispiel weil aufgrund von Standortfaktoren inzwischen nicht mehr nur Konkurrenz zwischen Firmen besteht, sondern zwischen Ländern. Wenn damit gedroht wird, Arbeitsplätze auszulagern, lassen sich nationale Regierungen erpressen und geben einen Teil ihrer Kontrolle über die Wirtschaft preis.

Haben Sie Beispiele? Finanzkrise? Bankenskandal? Dieselskandal?

In allen diesen Beispielen gab es nur Anpassungen an die Forderungen des Kapitals, die sich eben der Deregulierung bedient haben. Kanzlerin Merkel hat das auch noch mit dem Satz der "marktkonformen Demokratie" überhöht und damit einen markanten Beitrag zur Demokratie-Entleerung beigesteuert. Ein "demokratiekonformer Markt" wäre eine bessere Idee gewesen.

Sozial Schwache sehen auf noch schwächere herab

Und inwiefern hat der Kapitalismus Kontrolle über die Gesellschaft gewonnen?

Innovationspreis 2014

Wilhelm Heitmeyer ist ehemaliger Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld.

(Foto: oh)

Gruppen von Menschen werden inzwischen vielfach nach ökonomischen Kriterien bewertet, also nach ihrer Verwertbarkeit, ihrer Nützlichkeit und Effizienz. Das sind Prinzipien, die für die Wirtschaftsleben funktional sind. Aber sie sind immer stärker in die Lebenswelt der Bevölkerung eingedrungen und haben in allen Schichten auch zu einem ökonomistischen Denken geführt.

Dadurch werden besonders bestimmte Gruppen abgewertet und diskriminiert, wir nennen das "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit": Betroffen sind Langzeitarbeitslose, niedrig qualifizierte Migranten, Flüchtlinge, Obdachlose, Behinderte. Die sozial Schwachen sehen dann auf die noch schwächeren herab. Und seit einigen Jahren klagen auch jene mit hohem sozialen Status darüber, dass sie als Leistungsträger alle anderen mitschleppen sollen. Es ist zu befürchten, dass dieses Denken weiter um sich greift.

Die Solidargemeinschaft, wie es sie in den 1990er Jahren noch gab, erodiert unter dem massiven Druck der Durchsetzungs- und Konkurrenzlogik des Kapitals, dem die herrschende Politik folgt. Wenn dann Teile der Politik gleichzeitig vom gesellschaftlichen "Zusammenhalt" reden, dann ist das bloße Ideologie und Ablenkung.

Sie haben außerdem vor Desintegration und Demokratie-Entleerung gewarnt. Was meinen Sie damit?

Integriert sein bedeutet, dass Menschen Zugang zu den Institutionen der Gesellschaft wie dem Arbeitsmarkt, dem kulturellen und politischen Leben haben, und auch - das ist sehr wichtig - dass sie sich als anerkannt wahrnehmen. Das Wahrgenommenwerden und die Anerkennung sind für viele aber nicht gewährleistet. Das gilt nicht nur für Zugewanderte und Flüchtlinge, sondern auch für Einheimische, vor allem für viele Menschen im Osten. Nach der Wiedervereinigung wurde bei vielen die Leistung eines ganzen Lebens entwertet. Ganze Landstriche sind dort desintegriert.

Menschen haben das Gefühl, dass sie oder die Gruppe, der sie sich zugehörig fühlen, in der Politik keine Stimme haben, dass sie überhaupt nicht wahrgenommen werden. Und bekanntlich ist der, der nicht wahrgenommen wird, ein Nichts. Das wiederum schwächt den Glauben an die Demokratie. Sie verliert an Bedeutung. Es kommt zu einer Demokratie-Entleerung. Das heißt, der Apparat läuft zwar wie geschmiert, aber die notwendige Substanz des Vertrauens verflüchtigt sich.

Das geschieht schleichend schon seit langem. Bereits 2002 konnten wir feststellen, dass etwa 20 Prozent der Bevölkerung rechtpopulistisch eingestellt sind. Ein Teil war wahlpolitisch gesehen bei anderen Parteien unterwegs oder ausgeklinkt. Oder sie sind in ihrer Hoffnungslosigkeit und ihrem Unterlegenheitsgefühl in eine wutgetränkte Apathie verfallen. Bei Pegida und der AfD haben dann viele offenbar das Gefühl gehabt, hier gebe es einen Ort, wo sie sich endlich Gehör verschaffen können.

Wieso setzen diese Menschen ausgerechnet auf eine so weit rechts stehende Partei? Warum nicht auf die Linke - gerade im Osten?

Menschen suchen immer nach etwas, das hilft, sich selbst aufzuwerten, ein positives Bild von sich selbst zu zimmern, egal, was geschieht. Dabei hilft es, sich einer Gruppe zuzuordnen, in der die eigenen Eigenschaften aufgewertet werden. Wer das Gefühl hat, durch nichts anerkannt zu werden, dem bleibt am Ende zumindest das "Deutschsein" - das kann ihm niemand nehmen. Hier kommt es zu einem Übergang von sozialen zu kulturellen Faktoren mit Haltungen der Überlegenheit und der Abwertung von Muslimen, Juden, Homosexuellen, Sinti und Roma.

Die AfD nutzt das aus, indem sie die Bedeutung der nationalen Identität und die Überlegenheit des deutschen Volk betont. Wenn dann noch emotional ausbeutbare Signalereignisse wie die Flüchtlingsbewegung und "Köln" mit ihrer hohen öffentlichen Wahrnehmung hinzukommen, dann haben die aggressiven Mobilisierungsakteure leichtes Spiel, um individuelle, wutgetränkte Apathie in kollektive Machtfantasien zu verwandeln. So eine Aufwertung erfolgt allerdings immer über den Mechanismus der Abwertung anderer. Diese Abwertung haben wir in unserer Langzeitstudie immer wieder beobachtet.

Bei der AfD sind es verstärkt die "Fremden", die Flüchtlinge, die abgewertet werden.

Das geht auf Kosten aller schwachen Gruppen in der Gesellschaft, die wir bereits erwähnt haben. Die AfD nutzt diese Abwertungseffekte, indem sie mit einfachen Weltbildern voller Gegensätze arbeitet. Da heißt es dann Volk versus politische Eliten, Verklärung der deutschen Geschichte versus historische Aufklärung, deutsche Überlegenheit versus Unterlegenheit anderer Völker, geschlossene versus offene Gesellschaft, Identität versus "Überfremdung" und Diversität. Da wird alles ausgepackt, was es an Diffamierungen anderer gibt und die Wut der "Ohnmächtigen" noch beflügelt.

Die Umfragen unter den Wählern zeigen, dass inzwischen auch viele Menschen die AfD wählen, denen es eigentlich gutgeht. Sehen wir hier die Radikalisierung der gesellschaftlichen Mitte und die rohe Bürgerlichkeit, vor der Sie seit Jahren warnen?

Die Abwertung von Gruppen haben wir seit einigen Jahren auch in der Mitte der Gesellschaft beobachtet. Das ökonomistische Denken wie auch die Betonung kultureller Überlegenheit im Sinne einer Ideologie der Ungleichwertigkeit geht, wie gesagt, durch alle Schichten. Und unter den AfD-Wählern sind tatsächlich nicht vor allem Menschen mit unteren Bildungsabschlüssen. Es sind auch viele Menschen mit mittleren Bildungsabschlüssen darunter, und auffällig viele Arbeiter.

Außerdem sind es vor allem die mittleren Altersgruppen, die AfD wählen, Menschen, die sich aktuell weniger um ihren Arbeitsplatz sorgen, aber um ihre Altersversorgung und die Zukunft ihrer Kinder. Und egal, was die Statistiken zur sozialen Ungleichheit sagen - darüber wird ja heftig gestritten -, viele Menschen nehmen es so wahr, dass sie keine großen Aussichten mehr auf einen Aufstieg haben. Dass ihnen im Gegenteil ein Abstieg drohen könnte.

Die AfD steht für einen autoritären Nationalradikalismus

Und die AfD gibt vor, dagegen eine Lösung gefunden zu haben?

Die AfD verheißt denen, die ein Gefühl der Ohnmacht haben, dass sie wieder die Kontrolle zurückbekommen. Indem sie etwa verspricht: "Wir holen uns unser Land zurück", oder wie André Poggenburg fordert: "Deutschland den Deutschen".

Und dann treten auch noch Vertreter der intellektuellen Elite auf und befeuern die Abwertung. Etwa Herr Sarrazin mit seinen muslimischen "Kopftuchmädchen", deren Nachwuchs die Deutschen verdrängen würden. Natürlich distanzieren sich diese Leute sofort vom Vorwurf des Rechtsextremismus oder Neonazismus. Und wir müssen tatsächlich auch vorsichtig sein mit diesen Etiketten, wenn wir von der AfD sprechen.

Wie nennen Sie die AfD?

Jedenfalls nicht rechtspopulistisch. Das ist verharmlosend. Aber auch nicht rechtsextrem oder neonazistisch. Solche Bewegungen arbeiten mit Gewalt. Wird die AfD so genannt, bietet man ihr nur die Gelegenheit, sich effektvoll als verleumdetes Opfer dazustellen. Allerdings müssen wir abwarten, ob sie noch ins Rechtsextreme übergeht. Begriffliche "Durchlöcherungen" der Grenze dorthin gibt es ja schon.

Für mich steht die Partei aber für einen neuen Typus eines autoritären Nationalradikalismus. Eben weil es in erster Linie um die autoritäre Wiederherstellung von Kontrolle geht - über das eigene Leben, über die sozialen Verhältnisse, über die Grenzen. Und auch über die herrschende Politik, die sie nach rechts treiben will. Mit dieser Entwicklung ist Deutschland kein Sonderfall mehr in Europa. Es ist quasi eine nachholende Entwicklung.

Der größte Teil der Gesellschaft lehnt ab, wofür die AfD steht. 87 Prozent der Deutschen haben diese Partei nicht gewählt. Beruhigt Sie das?

Es gibt aber auch bei manchen in der Politik die Neigung, weiter nach rechts zu rücken. Ich bin mal gespannt, was der CSU-Vorsitzende Seehofer tun wird, wo trotz seiner rabiaten Töne zu den Flüchtlingen die AfD in Bayern so eine hohe Zustimmung hat. Auch CDU-Innenminister de Maizière hat mit seinem Vorstoß zu einer Leitkultur auf das Schlagwort Burka gesetzt und so der AfD in die Hände gespielt. Dies alles trägt zur Verschiebung von Normalitätsstandards bei - und führt letztlich zu einer Normalisierung.

Zwar können sich solche Erscheinungen wie Pegida und AfD schnell verändern und auch wieder verschwinden. Aber das Zusammenwirken von autoritärem Kapitalismus, Demokratieentleerung und sozialen Desintegrationsbefürchtungen bleibt ja stabil.

In jüngster Zeit ist ein wichtiger Faktor dazugekommen: Digitalisierung. Einige Politiker wissen zwar schon: Alles wird wunderbar. Aber kein seriöser Experte kann hier belastbare Vorhersagen machen. Und wenn ich dann noch die Forderungen der FDP in Hinblick auf die Wirtschafts-, Flüchtlings- und Sozialpolitik höre, fürchte ich, dass Teile der Bevölkerung eher weiter abgehängt als integriert werden. Dann kommt wieder der autoritäre Nationalradikalismus zum Zuge - in welcher Form auch immer. Das werden wir kaum wieder los.

Was wäre nun zu tun?

Ganz entscheidend wird es sein, eine Politik zu machen, die die Desintegration beendet, also eine Integrationspolitik auch für alle Deutschen, die das Gefühl haben, ausgeschlossen zu sein. Allerdings bin ich kein guter Ratgeber, denn angesichts des weiter ausgreifenden Kapitalismus bin ich sehr pessimistisch. Alle internationalen Untersuchungen, die ich kenne, sagen, dass Anpassungen nach rechts nichts bringen, sondern nur Veränderungen im genannten Zusammenwirken. Ich habe meine Zweifel, ob die herrschende Politik das überhaupt will - und kann.

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