Sozialstaat:Kürzen mit dem Käsehobel

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Anstehen für Essen und Kleidung in Helsinki: Laut offizieller Zahlen gelten elf Prozent der etwa fünf Millionen Finnen als arm, bei den Familien mit Kindern sind es zwölf Prozent.

(Foto: Cedric Galbe/AFP)

Finnland ist das Sorgenkind im Norden: kaum Wachstum, steigende Arbeitslosigkeit. Premier Sipilä geht die Probleme mit einem harten Sparkurs an - doch der, sagen Kritiker, trifft vor allem die Schwächsten.

Von Silke Bigalke, Helsinki

Die Warteschlange draußen vor der Tür, das weiß Heikki Hursti ohne nachzusehen, ist mehr als hundert Meter lang. Drinnen dirigiert der kleine Finne ein Dutzend Helfer durch die Halle. Sie stapeln Kisten mit Brot, Wurst, Joghurt, mit allem, was in den Supermärkten liegen geblieben ist. Jeden Mittwoch und Freitag verteilt Heikki Hursti Essen in Helsinki, montags verteilt er Kleidung.

Heikki Hursti, 62, schwarze Arbeitshose, beige Weste, hat das Unternehmen vom Vater übernommen, als der vor elf Jahren starb. Veikko Hursti war in Finnland ein bekannter Philanthrop und Wohltäter. Vor elf Jahren, erinnert sich Sohn Heikki, standen vielleicht 300 Menschen in der Brotschlange, so nennen sie die Essensausgaben. Heute kämen 3000 am Tag. Rente und Arbeitslosenhilfe reichten eben nicht mehr für Miete und Lebensmittel. "Jedes Mal, wenn die Regierung Geld sparen will, werden die Armen noch ärmer."

Finnland ist das Sorgenkind im Norden, auch im europäischen Vergleich hinkt das Land hinterher. Die Wirtschaft ist seit fünf Jahren kaum gewachsen. Die Arbeitslosenquote liegt im EU-Schnitt, ist zuletzt aber gestiegen. Aus Brüssel kommen regelmäßig mahnende Worte wegen der hohen Schulden.

Sie hätten die Wahl gehabt zwischen Pest und Cholera, sagt ein Gewerkschaftsvertreter

Vergangenes Jahr haben die Finnen in Juha Sipilä einen Unternehmer und Millionär zum Ministerpräsidenten gewählt. Der räumt nun ordentlich auf, möchte nicht nur den Haushalt um vier Milliarden Euro kürzen, sondern gleichzeitig die Wirtschaft ankurbeln. Über Monate hat er eine Art Gesellschaftsvertrag ausgehandelt, der finnische Arbeitskräfte billiger machen soll. Fast jeder Finne arbeitet für dasselbe Geld nun 24 Stunden mehr im Jahr und zahlt zudem höhere Sozialversicherungsbeiträge. Im öffentlichen Dienst verzichten sie außerdem auf ein Drittel des Urlaubsgelds. Juha Sipilä hatte mit noch mehr Kürzungen gedroht, sollten die Gewerkschaften nicht zustimmen. Sie hätten die Wahl gehabt zwischen "Pest und Cholera", so formulierte es ein Gewerkschaftler.

Die Regierung kürzt trotzdem noch ordentlich. Sie hat mehrere Tausend Stellen an Universitäten eingespart, das Gesundheitssystem zentralisiert. Bei den Sozialleistungen möchte sie überall ein bisschen wegnehmen, unter anderem beim Krankengeld, Elterngeld, Arbeitslosengeld und beim Zuschuss für Medikamente. Käsehobel-Politik sagen die Finnen dazu.

Die tut nun richtig weh, sagt Paavo Arhinmäki, weil jetzt bei den Gruppen gespart werde "die die größten Schwierigkeiten haben, bei den Arbeitslosen, den Studenten, den Pensionären, den Kranken". Arhinmäki war Minister in der bunt gemischten Sechs-Parteien-Koalition, die 2015 abgewählt wurde. Er war Minister, bis seine Partei, die Linken, die Regierung aus Protest verließ, als diese mit dem großen Sparen anfing. Jetzt sitzt Paavo Arhinmäki im Café neben dem Parlament, er holt weit aus, beginnt bei der großen Wirtschaftskrise in den Neunzigern und den Finnen, die seither nicht wieder auf die Beine gekommen seien. Er selbst ist damals noch zur Schule gegangen. Viele seiner Freunde, sagt er, hätten nie in den Arbeitsmarkt gefunden. "Menschen werden immer wütender, weil sie jetzt tatsächlich in ihren Brieftaschen und auf ihren Konten sehen, was passiert. Immer mehr fragen, wie sie ihr Leben so managen sollen."

Die Regierung verteidigt ihren Plan. "Wir sind sehr froh über das Ergebnis" sagt der Fraktionschef der regierenden Zentrumspartei, Antti Kaikkonen, über den Gesellschaftsvertrag. Finnland werde damit so wettbewerbsfähig wie Deutschland und Schweden. Er sei stolz auf die finnischen Arbeitnehmer, mehr als 90 Prozent nähmen Einschnitte und Mehrarbeit hin. Wichtig sei, dass Finnland dies als kleine Nation gemeinsam erreicht habe. "Wir haben das auf dem fairsten Weg gemacht."

Der Linke Paavo Arhinmäki sieht das anders. "Unser Premierminister sagt, dass die Dinge nun besser werden. Aber für die, die keine Arbeit haben, wird es sogar noch schlimmer." Die Gesellschaft zerfalle in eine Mehrheit, der es immer noch ganz gutgehe, und eine wachsende Minderheit, der es immer schlechter gehe. Paavo Arhinmäki sagt, er sehe keine gute Zukunft für sein Land. Eine so kleine Gesellschaft könne es sich nicht leisten, dass ein Viertel der Leute auf der Strecke bleibt.

Olli Holmström war früher Nokia-Manager, heute leitet er das Diakonische Institut in Helsinki, eine Anlage mit grünem Innenhof und Backsteingebäuden. Er spürt, dass es bröckelt in der finnischen Gesellschaft, spricht vom Verlust einer "mentalen Landschaft" und meint, dass vielen Finnen eine Perspektive fehlt - und Hoffnung. Seine Einrichtung hat vor zehn Jahren damit angefangen, Wohnungen für Langzeitobdachlose zu mieten. Doch es kämen immer mehr, die auf der Straße leben müssten, sagt er. Allein 1000 junge Leute zwischen 16 und 25 seien in Helsinki ohne Obdach. "Ein Loch auszubessern, einer Gruppe zu helfen führt dazu, dass mehr Hilfsbedürftige in die Stadt strömen. Die Dinge verschlechtern sich in der Gesellschaft." Der häufigste Grund dafür, dass jemand auf der Straße lebt, ist Langzeitarbeitslosigkeit, oft verbunden mit Drogenproblemen.

Von Januar an probiert die finnische Regierung nun etwas Neues: Dann testet sie das bedingungslose Grundeinkommen. Für das Experiment werden 2000 Finnen zufällig ausgesucht, die bereits Arbeitslosenhilfe erhalten. Diese wird durch das Basiseinkommen ersetzt, 560 Euro jeden Monat, zwei Jahre lang. Die Testpersonen bekommen das Geld auch dann, wenn sie in dieser Zeit einen Job annehmen. Diese Garantie soll sie zum Arbeiten motivieren. Zudem will die Regierung Verwaltungskosten sparen, wenn sie verschiedene Leistungen durch ein Basiseinkommen ersetzt. Wenn es clever umgesetzt wird, sagt Olli Holmström, könnte das Grundeinkommen den Arbeitslosen etwas Würde zurückgeben. Die Sozialarbeiter müssten dann nicht mehr regelmäßig Sparbücher prüfen.

In den fünf Jahren vor der Sipilä-Regierung haben die Politiker Sozialleistungen eher erhöht, statt zu kürzen, erklärt Pasi Moisio, Dozent am Nationalen Institut für Gesundheit und Wohlfahrt. 15 Jahre nach der großen Depression in den Neunzigerjahren schien die Zeit reif zu sein. Man hoffte wohl, dass sich die Wirtschaft erholt, wenn sich die Menschen wieder sicherer fühlen. Doch die Wirtschaft stagnierte weiterhin. Die neue Regierung geht nun den entgegengesetzten Weg. "Die Einsparungen werden die Armut vergrößern, daran besteht kein Zweifel. Das kommt nächstes Jahr auf uns zu", sagt Pasi Moisio.

Heikki Hursti hat die Türen geöffnet, die Brotschlange schiebt sich an den Tischen und Kisten mit Lebensmitteln vorbei, der Chef hat Zeit für einen Kaffee. Er ist einer der Finnen, die wenig reden. Aber die Politiker, sagt er, reden nur und tun nichts. Die versprochenen Jobs, die Investitionen, die neuen Straßen, wo ist das alles?, fragt er.

Was er anders machen würde in Finnlands Politik? Er antwortet mit einem Seufzer und einem einzigen Wort: Alles.

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