Sozialstaat:Demut und Pflege

Früher wurde Wehr- oder Ersatzdienst geleistet. Heute stünde ein Pflegejahr jungen Menschen gut an. Sie würden dabei etwas fürs Leben lernen.

Von Guido Bohsem

Die Pflegeversicherung ist deutlich besser als ihr Ruf. Dass die Patienten ruhiggestellt und verborgen werden - so läuft es eben nicht. Sie sind in der Regel recht gut aufgehoben, in den Heimen, in ihren Wohnungen und bei ihren Familien. Und sie werden von engagierten und gut ausgebildeten Fachkräften gepflegt. Trotzdem beschleicht wohl jeden Angehörigen ein klammes Gefühl, das zwischen schlechtem Gewissen und großer Sorge changiert. Geht es dem dementen Vater gut in seinem Heim? Behandeln die Leute vom mobilen Pflegedienst die gebrechliche Mutter mit Respekt?

Das Misstrauen gegen die Helfer ist groß, und ebenso die Versuchung, sie für den Zustand der Angehörigen verantwortlich zu machen, für den es doch in Wahrheit nur einen einzigen Verantwortlichen gibt - das Schicksal. Auch schleichen sich Gedanken an die eigene Zukunft ein: Will ich wirklich so leben, wenn ich alt bin?

Nein, die Pflegeversicherung ist nicht so schlecht wie ihr Ruf. Es ist vielmehr so, dass die Gesellschaft nicht gut mit der Pflegebedürftigkeit umgehen kann. Zu viele Ängste belasten das Thema, weshalb Verdrängung das Bewusstsein bestimmt. Doch das ist falsch.

Jeder junge Mensch sollte ein Pflegejahr leisten müssen

Richtig ist es vielmehr, sich den Ängsten zu stellen und Erfahrungen zu machen - und zwar bevor die Pflege eine existenzielle Frage wird, für die Angehörigen oder einen selbst. Es geht darum, die verschüttet gegangene Demut vor der eigenen Vergänglichkeit wiederzufinden. Wer nicht freiwillig sucht, sollte auf den Weg gebracht werden.

Wie nur in wenigen anderen Ländern wird die Zahl der Pflegebedürftigen hierzulande schon in den nächsten zehn Jahren deutlich steigen. Und wenn die erste Welle der geburtenstarken Jahrgänge erst einmal ins hohe Alter kommt, wird es noch mehr Pflegefälle geben. Verschärft wird die Lage durch die immer loseren familiären Bindungen. Allzu oft wohnen Eltern und Kinder Hunderte Kilometer voneinander entfernt - regelmäßiges Kümmern ausgeschlossen. Zugleich mangelt es an Pflegekräften, weil junge Menschen den anstrengenden und schlecht bezahlten Beruf meiden. Die Digitalisierung birgt keine Hoffnung. Pflegeroboter werden, so putzig sie auch aussehen mögen, nur bedingt helfen können.

Die Lösung all dieser Probleme liegt nahe, bedeutet aber einen tiefen Einschnitt für die freiheitliche Gesellschaft: Die Pflege braucht ein verpflichtendes soziales Jahr, ein Pflegejahr. In dieser Zeit würde jungen Menschen das Lebensrisiko Pflege deutlich vertrauter werden. Sie lernten damit umzugehen. Sie erhielten ein besseres Verständnis für die Lage alter, pflegebedürftiger Menschen und womöglich ein gewisses Maß an Vorbereitung auf das eigene Schicksal.

Ein Pflegejahr könnte zudem die größten Belastungen durch den demografischen Wandel abfedern. Und wenn es über Steuern finanziert würde, würden den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern die Beiträge für die Pflegeversicherung nicht über den Kopf wachsen. Die Löhne im Pflegejahr würden sich an denen orientieren, die ehedem für Wehrpflichtige und Zivildienstleistende galten.

Vielleicht würde ein solches Jahr sogar dazu führen, dass sich deutlich mehr junge Menschen entscheiden, ihren Beruf in der Pflegebranche zu finden. Auch bei der Wehrpflicht hat es schließlich so ähnlich funktioniert. Viele junge Menschen entschieden sich, Soldat zu werden, weil der Wehrdienst ihnen eine Aufgabe vor Augen führte und das Erlebnis sie anspornte mitzumachen.

Natürlich handelt es sich um einen schwerwiegenden Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht junger Menschen. Womöglich müssten Berufsausbildungen unterbrochen, Studiengänge vertagt und Weltreisen verschoben werden. Es wäre eine Zumutung und eine Belastung, in materieller und in freiheitlicher Sicht.

Nur die wenigsten würden diese zwölf Monate gerne antreten, und die meisten wären froh, wenn sie denn nun endlich vorbei wären. Und doch würden sie etwas lernen. Früher warfen die Alten den Jungen immer vor, schon mit 18 an die Rente zu denken. Heute sollte es zum Rüstzeug der Jungen gehören, sich über die Altersvorsorge und über die Pflege Gedanken gemacht zu haben. Alles andere wäre leichtfertig.

Natürlich kann man die demografische Herausforderung nicht mit den Erfordernissen aus dem Kalten Krieg vergleichen. Doch stellt die alternde Gesellschaft sehr wohl eine Gefahr für den inneren Zusammenhalt der Bundesrepublik dar und für ihren Wohlstand. In gewisser Weise geht es auch hier um Verteidigung: um die des Zusammenhalts der Gesellschaft.

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