Sozialleistungen für Zuwanderer:EU-Kommission legt Leitfaden vor

In der EU darf sich jeder Bürger niederlassen, wo er mag. Hat er damit auch Anrecht auf Sozialleistungen, dort wo er sich niederlässt? Brüssel will jetzt mit einem Leitfaden helfen und wehrt sich gegen den Vorwurf, einer Art Sozialtourismus Vorschub zu leisten.

Von Daniel Brössler, Brüssel

Auf Seite 49 im neuen Leitfaden der EU-Kommission für die Regeln der Arbeit im EU-Ausland geht es um Herrn I. Der junge Mann ist alleinstehend und arbeitslos. Er stammt, das steht nicht im Leitfaden, vielleicht aus Rumänien, vielleicht aber auch aus Spanien.

Auf der Suche nach Arbeit hat er seine Heimat verlassen. In einem anderen EU-Land übernachtet er bei einem Freund und hält sich als Straßenmusikant über Wasser. Bei den Behörden angemeldet hat er sich nicht. Herr I., so erläutert der Leitfaden, hat seinen Wohnsitz folglich immer noch in der Heimat. Konsequenz: Von Sozialleistungen im Gastland kann Herr I. nicht legal profitieren.

Die EU-Kommission tue das Äußerste, um klarzustellen, "wie man auf der Grundlage bestehender EU-Gesetze gegen Betrug und Missbrauch vorgehen kann", versicherte Sozialkommissar László Andor am Montag bei der Vorstellung des Leitfadens. Von der Handreichung verspricht der Ungar sich eine Versachlichung einer Debatte, die zuletzt in mehreren Mitgliedsländern ziemlich emotional geführt wurde.

Dabei geht es um die Folgen der Freizügigkeit für die Sozialsysteme. Es sei "zum Verzweifeln, wie wenig diese EU-Kommission die Lebensrealität der Menschen in Europa zur Kenntnis nimmt", hatte der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer erst am Wochenende wieder im Spiegel beklagt.

Es ist Kritik, auf die Andor nicht direkt eingeht. Vielmehr verweist er darauf, die Freizügigkeit sei ein Grundpfeiler der EU und eine Errungenschaft, die den Bürgern besonders wichtig sei. "Ausländische Arbeitnehmer tragen unter dem Strich zum Wohlstand ihrer Gastländer bei", betonte Andor. Er glaube nicht, dass die Freizügigkeit durch die aktuelle Diskussion bedroht werde. Es seien doch nur sehr wenige Politiker, welche die Freizügigkeit wirklich abschaffen wollten.

Worum es Andor geht, ist der im EU-Recht längst verankerte soziale Unterbau der Freizügigkeit. Der Leitfaden enthalte daher gar nichts Neues, räumte der Kommissar ein, sondern informiere über die Rechtslage.

"Politischer Kalender" Anstoss der Diskussion

Diese Rechtslage spricht zum Beispiel für Herrn J., dessen Beispiel im Leitfaden ebenfalls dargelegt wird. Herr J. ist wie Herr I. ledig und arbeitslos. Seinen Mietvertrag im Heimatland hat er gekündigt, seine gesamte Habe mitgenommen. Das Gastland, wo er bei einem Freund unterkommt, sei nun deshalb erst einmal als sein Wohnort anzusehen, heißt es im Leitfaden. Was aus Sicht der Kommission heißt, dass er nicht einfach von Sozialleistungen ausgeschlossen werden kann.

Genau darum geht es im Kern auch in einem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), in dem die deutsche Praxis überprüft wird. Eine arbeitslose Rumänin und ihr kleiner Sohn hatten in Leipzig erfolglos Hartz IV beantragt.

Pauschal ausgeschlossen werden dürfen EU-Ausländer von solchen Leistungen nicht, betonte die Kommission in ihrer Stellungnahme zu dem Verfahren - und löste damit in Deutschland heftige Reaktionen aus. "Wir haben bewusst keine Sozialunion", hatte etwa der CDU-Vizevorsitzende Armin Laschet gekontert. Es sei ein europäisches Grundprinzip, dass nur derjenige Leistungen erhalte, der auch etwas eingezahlt habe. Sonst könne "sich jeder das Sozialsystem aussuchen, das für ihn am günstigsten ist".

Die EU-Kommission dreht das um und beharrt darauf, dass die Staaten sich nicht willkürlich aussuchen können, wer in den Genuss von Sozialleistungen kommt. Das EU-Recht unterscheidet verschiedene Aufenthaltsformen und daraus jeweils resultierende Ansprüche von Bürgern, die innerhalb der EU in ein anderes Land ziehen. Demnach kann immer nur ein Staat zuständig sein für "wohnsitzgebundene Leistungen der sozialen Sicherheit". Der Leitfaden solle helfen, sich in dem komplizierten System zurechtzufinden, sagt Andor.

Kein Sozialtourismus

Es sei allerdings, das sagt er auch, nicht das Fehlen eines Leitfadens gewesen, das die Diskussion der vergangenen Monate befeuert habe. Da sei doch auch der "politische Kalender" im Spiel. Da meint er zum Beispiel Großbritannien, wo Premierminister David Cameron unter dem Druck eines womöglich früher als gedacht kommenden Referendums über die EU-Mitgliedschaft steht. "Wir brauchen Änderungen beim Anspruch auf Sozialleistungen, wir brauchen Änderungen bei der Freizügigkeit", sagte er Anfang Januar. Wie Seehofer verbindet auch Cameron anlässlich der vollen Freizügigkeit für Rumänen und Bulgaren die Angst vor Armutszuwanderung mit allgemeinem Unbehagen an der EU.

Die EU-Kommission wiederum wehrt sich gegen den Vorwurf, einer Art Sozialtourismus Vorschub zu leisten. "Es gibt mit Sicherheit eine Grenze für das Aufenthaltsrecht in einem anderen Land, in dem man keiner Berufstätigkeit nachgeht", versicherte Andor am Montag. So könne man etwa erwarten, dass jemand nach sechs Monaten herausgefunden habe, ob er auf dem Arbeitsmarkt eines anderen EU-Landes eine Chance habe.

Wie Nachbarländer die Sozialhilfe regeln
  • In Frankreich steht das "aktive Solidaritätseinkommen" (revenue de solidarité active, RSA) allen EU-Bürgern zu, die älter als 25 Jahre sind und sich seit mindestens drei Monaten in Frankreich aufhalten. Aktuell beträgt es 499,31 Euro im Monat. Wer das RSA bezieht, hat auch Anspruch auf Wohngeld in Höhe von monatlich knapp 60 Euro. Für beides gibt es keine zeitliche Begrenzung. Vom RSA ausgeschlossen sind allerdings EU-Bürger, die nach Frankreich gekommen sind, um Arbeit zu suchen.
  • In England, Schottland und Wales steht allen Menschen mit einer Aufenthaltsgenehmigung für das Vereinigte Königreich eine Sozialhilfe namens Income Support zu. Vorausgesetzt, sie sind mindestens 16 Jahre alt, arbeiten nicht mehr als 16 Stunden pro Woche und ihre Ersparnisse betragen nicht mehr als 16.000 Pfund (etwa 19.200 Euro). Auch Schwangere, Alleinerziehende mit Kindern unter fünf Jahren, Behinderte und Kranke haben Anspruch. Ein fester Wohnsitz ist nicht nötig. Aktuell beträgt die Sozialhilfe mindestens 56 Pfund (68 Euro) pro Woche. Hinzu kommen weitere Leistungen wie zum Beispiel Wohngeld. Die Gesamtsumme der Sozialleistungen ist gedeckelt: Der Staat zahlt Paaren und Alleinerziehenden maximal 500 Pfund (600 Euro) pro Woche, Singles bekommen maximal 350 Pfund (420 Euro).
  • In Schweden gibt es zahlreiche Sozialleistungen für Neuankömmlinge. So soll das Etableringsersättning, eine Art Einführungsgeld, Immigranten bei der Integration helfen. Die Sozialhilfe heißt in Schweden Försörjningsstöd. Sie steht grundsätzlich allen Menschen zu, die nicht selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen können. Voraussetzung ist lediglich, dass sich die Person oder Familie legal in Schweden aufhält. Ein dauerhafter Wohnsitz ist nicht nötig, auch gibt es keine Altersbegrenzungen. Über die Bedürftigkeit entscheidet die jeweilige Gemeinde. Alleinstehende bekommen maximal 339 Euro im Monat, Paare 611 Euro. Leben Kinder im Haushalt, gibt es mehr Geld. Auch für Miete, Strom, Fahrten zur Arbeit und Versicherungen gibt es zusätzliche Hilfen. Viele medizinische Behandlungen sind für Sozialhilfeempfänger kostenfrei.

(liv/mikö)

Die Freizügigkeit an sich aber will Andor nicht antasten lassen - auch nicht von Cameron. Ausgeschlossen sei es, bestimmte Gruppen per Gesetz zu diskriminieren. Und überhaupt seien Arbeitsmigranten für die Gastländer in weit größerem Maße Segen als Last: "Sie zahlen mehr in die Sozialsysteme ein, als sie herausbekommen."

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