Soziale Unruhen:"So was kann schnell zum Selbstläufer werden"

Gesine Schwan und Michael Sommer warnen vor soziale Unruhen durch die Wirtschaftskrise. Konfliktforscher Heitmeyer hält das für gefährlich.

Jonas Reese

Professor Wilhelm Heitmeyer leitet das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Unter anderem befasst er sich mit politischen Konflikten und sozialpsychologischen Mechanismen.

Soziale Unruhen: Professor Wilhelm Heitmeyer vom Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung hält soziale Unruhen in Deutschland für wenig wahrscheinlich.

Professor Wilhelm Heitmeyer vom Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung hält soziale Unruhen in Deutschland für wenig wahrscheinlich.

(Foto: Foto: Nele Heitmeyer, Foto-Design)

sueddeutsche.de: Herr Heitmeyer, nach DGB-Chef Sommer warnt nun auch Gesine Schwan vor sozialen Unruhen, wenn sich die Finanzkrise verschärft. Wie wahrscheinlich ist das?

Wilhelm Heitmeyer: Das ist ganz schwierig zu beantworten, denn es müssen zahlreiche Faktoren zusammenkommen. Dazu braucht man erst mal eine Bewegung, eine Masse, die sich gegen die Verhältnisse auflehnt. Man braucht Mobilisierungsexperten, ein klares Zielobjekt und so weiter. Die sehe ich in Deutschland zurzeit nicht.

sueddeutsche.de: Was halten Sie dann von solchen Warnungen? Frau Schwan und Herr Sommer stehen damit ja nicht alleine.

Heitmeyer: Man sollte da sehr aufpassen. So etwas kann schnell zum Selbstläufer werden, zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Das ist nicht ungefährlich.

sueddeutsche.de: Noch ist die Krise bei den Menschen nicht angekommen. Wenn aber ab Sommer Zehntausende Arbeitnehmer entlassen werden, braut sich dann nicht automatisch etwas zusammen?

Heitmeyer: Es gibt sicher viel Wut bei den einzelnen Menschen. Es gibt aber kein konkretes Ziel, welches die Menschen verbinden würde. Denn hier müsste ja ein ganzes System, also das Finanzsystem zum Gegenstand von Unruhen gemacht werden. Und die, die einen Job haben, werden nicht auf die Straße gehen, weil sie um ihren Job und um ihre Existenz fürchten, zumal dann, wenn Gewalt befürchtet werden muss.

sueddeutsche.de: Wieso kommt es in anderen Ländern eher zu sozialen Unruhen - Beispiel Frankreich und die Ausschreitungen in den Pariser Banlieues 2005 und 2008.

Heitmeyer: Frankreich besitzt eine ganz andere Protestgeschichte und auch eine gewaltanfällige Protestkultur. Außerdem ist Frankreich eine Klassengesellschaft. Darin entstehen viel eher Protestbewegungen, weil die Menschen sich aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit leichter zusammenfinden.

sueddeutsche.de: Ist es auch eine Mentalitätsfrage?

Heitmeyer: Ja, auch. In Deutschland ist es bisher undenkbar, dass deutsche Arbeiter ihre Manager festhalten und als Geisel nehmen, so wie es jetzt in Frankreich passiert.

sueddeutsche.de: Der Armutsbericht 2008 zeigt, dass in Deutschland die Lücke zwischen arm und reich immer größer wird. Sind wir nicht auch auf dem Weg zu französischen Verhältnissen?

Heitmeyer: Die gesellschaftlichen Entwicklungen sind sicherlich beängstigend. Es herrscht vielfach Orientierungslosigkeit und Angst vor dem Abstieg und sozialer Desintegration. Die Menschen sind überfordert. Das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Kapital hat sich stark zum Negativen gewandelt. Während Politik und Individuum einen Kontrollverlust erleiden, hat das Kapital an Macht und Kontrolle gewonnen.

sueddeutsche.de: Wird die aktuelle Wirtschaftskrise daran etwas ändern?

Heitmeyer: Es ist sehr fraglich, ob sich das trotz Krisen wirklich dauerhaft ändert oder nur inszeniert wird. Wenn Letzteres sichtbar wird, verschärft sich möglicherweise ein anderes Problem: Die ohnehin schon vorhandene Distanz zur Demokratie wird noch größer. Das ist dann der individuelle Protest, der für den Einzelnen kostengünstig zu sein scheint, aber für die Gesellschaft katastrophal.

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