Sozialdemokratie:Roter Spagat

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Die einst so starke und nun so gebeutelte NRW-SPD sucht ein linkes Profil, auch um Wähler anzulocken, die nach rechts wegliefen. Einen neuen Vorsitzenden haben sie schon gefunden.

Von Christian Wernicke, Münster/Essen

So viel Anfang war nie. So neu, so unbekannt ist der Mann mit dem akkuraten Seitenscheitel, dass die Genossen ihm beim Parteitreff in Münster vorsorglich ein Namensschild auf den Resopal-Tisch gestellt haben. Sebastian Hartmann, das also ist er: 40 Jahre, weißes Hemd unterm silbergrauen Anzug, polierte Schuhe. "Hallo, ich bin der Neue", grüßt Hartmann, wann immer der künftige Chef der NRW-SPD sich dieser Tage zwischen Rhein und Weser vorstellt. Seine Augen leuchten, das Gesicht glüht wie Morgenröte: "Ich brenne für diese Aufgabe."

Vier Dutzend Sozialdemokraten sind an einem Samstagmorgen gekommen, müde hocken sie im Team-Raum eines Bio-Marktes auf grauen Plastiksesseln. Hartmann weiß um die gedrückte Stimmung seiner Partei, kämpft wortreich dagegen an. "Selbstmitleid", so redet er, "das ist keine Sozialdemokratie." Die SPD, das sei doch "die Partei der Arbeit", die "soziale Sicherheit für alle" schaffe. Einer, der unter Rotgrün Politik erlernte, verheißt nun "SPD pur". Reineres Rot also.

Hartmann, seit 2013 Abgeordneter in Berlin, verdingte sich nach einem halben Jurastudium als "Organisationsberater". Das klingt durch, wenn er Formeln stanzt wie zur Digitalisierung, "diesen menschengemachten Wandel, der ein Wandel für die Menschen werden muss." Seine Gedanken huschen von "E wie Einwanderung" zu "E wie Europa", ehe sie jäh bei Schule und Bildung landen. Nicht jeder im Saal kommt da mit. Für sein Schlusswort aber erntet der Neue Beifall. "Seid fröhlich, niemand wählt traurige Menschen!"

Frohsinn, das wird so leicht nicht. Zwar dürfte Sebastian Hartmann problemlos beim Parteitag in Bochum am Samstag zum Vorsitzenden der NRW-SPD gekürt werden. Das wird ihm Einfluss verschaffen, auch in Berlin. Fast ein Viertel der 460 000 Bundes-Genossen lebt an Rhein und Ruhr. Nur, ein Neuling macht noch keinen Neuanfang. Hartmann, als Nobody der Nachfahre von Partei-Legenden wie Johannes Rau und Hannelore Kraft, tritt eine rote "Mission impossible" an. So sagt es, streng anonym, ein NRW-Parteistratege, der hinzufügt: "Auf dem Spiel steht schlicht das Überleben unserer Partei."

Ein Bild aus der guten alten Zeit in der einstigen „Herzkammer der Sozialdemokratie“: Schichtende in der Zeche Prosper-Haniel im Jahr 2004. Sie ist das letzte aktive Bergwerk im Ruhrgebiet. (Foto: Stephan Elleringmann/laif)

Hartmann verkörpert zusammen mit einem verjüngten Vorstand einen Generationswechsel. Er übernimmt eine Partei in Depression, und manche Ursache dieser Sinnkrise ist so alt er selbst. Allen voran im Ruhrgebiet, der einstigen "Herzkammer der SPD": Als Hartmann geboren wurde, herrschten dort die Sozialdemokraten wie sonst nur die CSU in Bayern - absolut und arrogant. Als dann Kohle und Stahl wegbrachen, federten die Genossen den Strukturwandel sozialpolitisch ab - als Regierungspartei, mit der Gewerkschaft, in der Not per Arbeiterwohlfahrt. Vor vierzig Jahren zählte die NRW-SPD dreimal so viele Mitglieder wie heute; noch vor dreißig Jahren flog ihr bei Wahlen jede zweite Stimme zu. Es war die Ära der "Kümmerer-Partei", ein Ideal, das bis zuletzt auch Hannelore Kraft kultivierte, die vorerst letzte SPD-Ministerpräsidentin. Abgewählt im Mai 2017 mit 31,2 Prozent.

Seither regiert Schwarz-Gelb im Land, die NRW-SPD dümpelt in Umfragen um die 22 Prozent. Karlheinz Endruschat, Ratsherr in Essen, kann erzählen, wie es so weit kommen konnte. Der 67-jährige Rentner sitzt am hölzernen Esstisch seines Eigenheims in einer früheren Zechensiedlung und erinnert sich, wie schon in den 90er Jahren die Wähler wegblieben. Damals war der studierte Sozialarbeiter noch nicht mal in der SPD. "Aber ich hab gehört, wie die Leute sagten: 'Die Sozis tun nix mehr für uns.'" Die Enttäuschung schlug um in Verbitterung, als Anfang der Nuller-Jahre Kanzler Gerhard Schröder seine Agenda 2010 durchsetzte, samt Mini-Jobs und Hartz-IV. "Da fühlten sich unsere Leute verraten," weiß Endruschat, "CDU wollten sie nicht wählen, das ging nicht. Aber SPD, das ging auch nicht mehr." Die Malocher verweigerten den Gang an die Urnen, in etlichen Vierteln im Norden des Ruhrgebiets sank die Wahlbeteiligung unter 50 Prozent.

Dass die Agenda 2010 der SPD in ihrem einstigen Stammland das Kreuz gebrochen hat, das beklagen heute viele Genossen. Sogar solche, die damals im Bundestag für Schröder Reform votierten. Die Wut, die Angst vorm Abstieg haben ihnen Passanten auf den Marktplätzen vorigen Herbst im Bundestagswahlkampf erneut ins Gesicht geschrien. Das erklärt, warum in NRW besonders viele Partei-Funktionäre, Rechte wie Linke, sich Anfang dieses Jahres gegen eine erneute Groko mit der CDU sperrten: Sie wollten sich in der Opposition befreien, auch von dieser Erblast.

Das allein jedoch, so jedenfalls glaubt Karlheinz Endruschat, hätte eh nichts genützt, Vertrauen zurückzugewinnen. "Unsere Niederlage begann doch viel früher", sagt der Ratsherr, "mit einer anderen Entwicklung." Als die Jobs auf den Zechen wegbrachen, seien viele Deutsche weggezogen - und in die billigen Wohnungen rückten Ausländer nach. Erst Türken, dann Kurden und Libanesen, zuletzt die Flüchtlinge. 40 Prozent der Menschen in seinem Stadtteil Altenessen haben einen fremden Pass, jedes zweite Kind in der Kita spricht zuhause kein Deutsch. "Das ist nicht nur ein soziales, das ist auch ein kulturelles Problem", sagt Endruschat: "Die Integration funktioniert nicht, hier entstehen Parallelgesellschaften. Aber meine Partei verweigert sich dieser Realität bis heute."

Neuer Chef von 112 000 SPD-Mitgliedern. Auf dem Parteitag in Bochum soll der Bundestagsabgeordnete Sebastian Hartmann, 40, zum Landesvorsitzenden gewählt werden. (Foto: Roland Weihrauch/dpa)

Endruschat beschreibt einen Spagat, der seine Partei zerreißt. Die Führungsebene seiner SPD fühle und denke rot-grün. "Viele grenzen mich aus, für die bin ich ein Rechter," berichtet Endruschat. Die Wähler hingegen, die Basis, driftet derweil weg zur AfD: In ärmeren Teilen des Ruhrgebiets ergatterten die Rechtspopulisten mal 15, mal 20 Prozent der Stimmen. Oder mehr. "Diese Menschen verlangen nach Sicherheit und Identität", analysiert der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte, "früher war die SPD für sie das soziale Kompetenzzentrum - das ist sie nicht mehr."

Beim Gang durch die Straßen zeigt Ratsherr Endruschat, wie sich seine Welt verändert hat. Vier Moscheen laden zum Gebet, die Eckkneipe ist längst ein arabischer Grill, der Schmuckladen heißt "Mekka Juwelier". Die Kriminalität steigt, vorm Bahnhof zeigt Endruschat auf die Ecken, wo abends die Drogenhändler stehen. Der Genosse fordert mehr Bildung, mehr Lehrer - aber eben auch mehr Härte der Polizei gegen kriminelle Familienclans. Und eine Baupolitik, die - etwa durch preiswerte Eigenheime für Familien - wieder eine Mittelschicht zurücklockt ins Viertel.

Es gibt inzwischen SPD-Politiker in NRW, die Endruschats Warnungen hören. Sören Link zum Beispiel, der Duisburger Bürgermeister, hat Respekt (und Wahlen) gewonnen, weil er mit "Null-Toleranz" etwa gegen rumänische Banden vorgeht. Und auch Thomas Kutschaty, der Essener Parteivorsitzende und seit April neuer SPD-Fraktionschef im Düsseldorfer Landtag, mahnt neuerdings häufiger, seine Partei müsse "die Sorgen von Eltern ernster nehmen, die ihre Kinder in Schulklassen mit 80 Prozent Migrationshintergrund schicken." Die SPD suche "nicht nach Sündenböcken" - aber sie müsse "Lösungen anbieten für diese Menschen".

Kutschatys Wahl zum Oppositionsführer priesen viele Sozialdemokraten als "ersten Schritt der Erneuerung". 13 Monate nach dem Machtverlust im Land wagt die NRW-SPD mit Sebastian Hartmann am Samstag einen zweiten. Es ist ein Anfang - wo er endet, wissen die Genossen selbst nicht.

© SZ vom 23.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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