Sozialdemokratie:"Die SPD muss aufhören, der Reparaturbetrieb des neoliberalen Kapitalismus zu sein"

Sanierung der SPD-Parteizentrale

Eine Pappnachbildung der Willy-Brandt-Skulptur steht im Besucherforum der SPD-Parteizentrale in Berlin (Archivbild).

(Foto: dpa)

Die SPD-Linke Andrea Ypsilanti im Gespräch über das Scheitern der Sozialdemokratie, welche Option sie Parteichef Schulz empfiehlt und was der Partei in der Not helfen kann.

Interview von Lars Langenau

Andrea Ypsilanti, 60, wurde 2003 Landesvorsitzende der Hessen-SPD und war Spitzenkandidatin für die Landtagswahl 2008. Mit der Wahl 2018 scheidet sie aus dem Landtag aus. Nach 20 Jahren im Landesparlament will sie ihre politische Arbeit dennoch fortsetzen. Sie ist Mitbegründerin des Instituts Solidarische Moderne, einer Programmwerkstatt aus dem Spektrum von SPD, Grünen, Linkspartei, unabhängigen Linken, NGOs und Wissenschaftlern. Ziel ist die Formulierung überparteilicher, linker Politik. Inzwischen sind - jenseits des Tagesgeschäfts - etliche Papiere und Bücher entstanden. Am 10. Januar erscheint Ypsilantis Buch "Und morgen regieren wir uns selbst" im Frankfurter Westend Verlag. Es ist eine Analyse der Krise der europäischen Sozialdemokratie und demokratischen Linken, Vorschläge für deren Überwindung und politische Alternativen.

SZ: Was ist 2017 schief gelaufen in der SPD?

Andrea Ypsilanti: Das fängt lange vor der Wahl Ende September 2017 an. Die SPD hat es in der großen Koalition versäumt, sich Gedanken darüber zu machen, wohin ihre Politik eigentlich führen soll, wo ihre Politik über die große Koalition hinausweist und das auch programmatisch festzumachen. Was sind unsere Zukunftsvorstellungen? Wie stellen wir uns eine solidarische Gesellschaft der Zukunft vor? Da hat die Partei wenig geliefert. Seit Gerhard Schröders Basta-Politik war die Parteibasis nicht mehr als Ideengeberin gefragt.

Wann hat Ihre Partei Ihrer Meinung nach zuletzt Zukunftsentwürfe geliefert?

In der Grundsatzdiskussion zum Berliner Programm 1989 gab es noch ernsthafte Debatten. Aber im Grund hat sie es seit den siebziger Jahren, dem Ende der fordistischen Ära versäumt, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie sich die Zukunft der Arbeitsgesellschaft vorstellt. Danach wurde nur noch von heute auf morgen Politik gemacht. In der vergangenen Legislaturperiode hat ein Vordenken dann überhaupt nicht mehr stattgefunden. Ich fand es völlig falsch, dass die SPD sich selbst genügt hat - und nie das große Bild davon zeichnete, wohin sie eigentlich will. Sie hat das Gefühl vermittelt, sich in der großen Koalition gut aufgehoben zu fühlen und keine Ideen für die Zukunft zu haben.

Welche Rolle spielt das Schröder/Blair-Papier von 1999?

Der sogenannte "Dritte Weg" war ein Weg in die Sackgasse. Damals hat Gerhard Schröder die SPD auch auf die Agenda 2010 verpflichtet. Das war ein tiefer Einschnitt in die Programmatik und ein massiver Fehler, den wir nie aufgearbeitet haben. Er hat zur Entfremdung von großen Teilen der Mitglieder und unserer Wähler geführt. Seit 1998 haben wir die Hälfte unserer Mitglieder und unserer Wähler verloren.

Hat deshalb Martin Schulz' Wahlkampfslogan "Zeit für soziale Gerechtigkeit" nicht verfangen?

Wir hatten doch noch nicht einmal ein schlüssiges Programm für soziale Gerechtigkeit. Schulz begann mit dem Versprechen, wir seien die Partei der sozialen Gerechtigkeit und man müsse deshalb auch über die Agenda 2010 reden. Danach allerdings wurde nichts mehr geliefert, alles blieb im Vagen und fiel deshalb nach dem kurzen Hype in sich zusammen. Auch das, was die SPD einst wirklich stark machte, die internationale Solidarität, die man mit einer anderen Vorstellung von europäischer Politik hätte hinterlegen können, kommt überhaupt nicht mehr zum Tragen.

Andrea Ypsilanti

Andrea Ypsilanti: Der Dritte Weg, war der Weg in die Sackgasse

(Foto: Fredrik Von Erichsen/dpa)

Sie sind vor fast zehn Jahren in Hessen bei der Wahl zur Ministerpräsidentin einer von Linkspartei und Grünen tolerierten SPD-Minderheitsregierung an fünf Ihrer eigenen Genossen gescheitert. Waren Sie Ihrer Zeit voraus?

Es ging um wesentliche inhaltliche Weichenstellungen. Heute weiß man zum Beispiel, dass bei einer Energiewende nicht die Lichter ausgehen. Deshalb wäre die Programmatik von 2008 wahrscheinlich erfolgreicher. Aber große Veränderungen sind immer von qualifizierten Minderheiten ausgegangen, die für Mehrheiten gekämpft haben. Nur müssen die auch heute endlich mal zusammenfinden!

Erläutern Sie das bitte.

Ein Beispiel: Willy Brandts Ostpolitik war ein hart umkämpfter Standpunkt einer politischen Minderheit und hat sich trotzdem durchgesetzt. So einen langen Atem brauchen wir, wenn wir an einem großen Rad drehen.

"Eine Minderheitsregierung unter Merkel ist mein eindeutiges Plädoyer"

Wie steht es um die Zusammenarbeit der SPD und der Linkspartei in der Ära nach Lafontaine?

Eine geteilte Arbeiterschaft ist eine geschwächte Arbeiterschaft. Wir brauchen nicht morgen einen Vereinigungsparteitag, dafür ist die Zeit nicht reif. Dass man auf der persönlichen und politischen Ebene Absprachen trifft, ist momentan allerdings schwierig, weil auch die Linkspartei Probleme hat, die sie erst mal für sich klären muss. Es gibt sehr gute, interessante Politiker und Politikerinnen in der Linkspartei und eine Reihe inhaltlicher Schnittmengen. Die Zukunft liegt in einer sozial-ökologisch ausgerichteten Transformationsstrategie mit ganz anderen demokratischen Partizipationsmöglichkeiten als die, die heute bereits bestehen. Klar brauchen wir einen Reparaturbetrieb für die schlimmsten Auswüchse dieses neoliberalen Kapitalismus. Aber wir müssen vor allem auch darüber hinaus denken. In meinem neuen Buch "Morgen regieren wir uns selbst" mache ich einige Vorschläge und beschreibe darin auch, dass ein gesellschaftlicher Umbau nicht mehr ohne Beteiligung der demokratischen Zivilgesellschaft gehen wird.

Wie bewerten Sie den Weg, den die SPD gerade in Berlin beschreitet?

Wir wissen ja noch nicht einmal, welchen Weg sie beschreiten wird. Um überhaupt der Parteibasis ein Votum für eine große Koalition vorlegen zu können, müsste ein grundlegender Politikwechsel eingeschlagen werden, der die soziale Gerechtigkeit zum Kernanliegen macht. Alles, was hinter diesen Zielen zurückbleibt, wird die Parteibasis nicht mitmachen. Aber ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie das mit der CDU/CSU zu machen ist. Auch sollte man nach den massiven Verlusten der Union und dem Scheitern von Jamaika mal nach der Verantwortung von Angela Merkel fragen, anstatt immer nur nach der Sozialdemokratie als Nothelfer zu rufen. Wenn die SPD es nicht schafft, sich inhaltlich, strukturell und personell zu erneuern, dann sehe ich schwierigste Zeiten auf uns zukommen.

Und das kann die SPD nur in der Opposition?

Ich kann mir das anders kaum vorstellen: Wie soll man Dinge loyal mittragen, die man programmatisch nicht teilt? Die SPD muss aufhören, der Reparaturbetrieb des neoliberalen Kapitalismus zu sein. Es braucht die Perspektive darüber hinaus.

Groko also nicht, dann also die Koko?

Ich verstehe nicht, wo sich das - außer im Namen - von einer Groko unterscheidet.

Neuwahlen?

Die würden im Moment wohl nichts an den Mehrheitsverhältnissen ändern und dazu braucht die SPD auch vorher ein neues Programm.

Bleibt eine Minderheitsregierung unter Merkel.

Ja, das ist mein eindeutiges Plädoyer. Dazu braucht es auch ein paar Absprachen in der Europa-, Außenpolitik und sicher auch bei der Haushaltspolitik. Bei den anderen Sachen, bei denen wir nicht mitmachen können, müssen sich andere Mehrheiten im Parlament finden.

Sigmar Gabriel hat in einem Essay im Spiegel eine Debatte über "Heimat" und "Leitkultur" angeregt. Was halten Sie davon?

Ich habe nichts dagegen, wenn ein Ex-Vorsitzender bessere Ideen hat, als er sie zu seiner Zeit als Vorsitzender hatte. Leider gehen die Ideen in die völlig falsche Richtung. Wir sollten nicht den Rechtspopulisten hinterherlaufen, sondern bei uns bleiben. Ich halte es für unnötig, die Begriffe "Heimat" und "Leitkultur" heranzuziehen, weil wir in der SPD viel bessere Begrifflichkeiten haben: "soziale Gerechtigkeit" und "Solidarität". Dieser historischen Aufgabe sollten wir uns widmen! Der Heimat-Begriff ist für mich ein Begriff der Rechtskonservativen, der bis ins rechtspopulistische Spektrum benutzt wird. Den brauchen wir gar nicht. Was Gabriel damit meint, ist doch Geborgenheit und Sicherheit - und das steckt für mich in den Worten "soziale Gerechtigkeit". Der umfasst, dass die Menschen ihre Miete, ihre Daseinsvorsorge, ihren Strom bezahlen können, dass sie sich bei Krankheit auf eine gute Rente, Pflege und ein gutes Gesundheitssystem verlassen können, bei dem sie nicht ständig draufzahlen müssen. Der Sozialstaat bietet Sicherheit und Geborgenheit.

Und die Orientierung an einer Leitkultur?

Brauchen wir auch nicht. Im Grundgesetz steht "die Würde des Menschen ist unantastbar", daran sollten wir uns lieber öfter mal erinnern. Ich kann mit Gabriels Vorstoß nichts anfangen, auch dass er Umwelt und Ökonomie gegeneinander ausspielt, halte ich für problematisch. Intakte Umwelt und Arbeitsplätze sind doch keine Gegensätze, sondern können einander bedingen.

Geht ja noch weiter: Die SPD habe sich in postmodernen liberalen Debatten wohlgefühlt, schreibt der Außenminister...

Klar haben wir uns kapriziert auf die "Ehe für Alle" und die Migrationsfrage, aber die Arbeiterbewegung ist eben eine solidarische Bewegung und ich verstehe nicht, wie man davon etwas abspalten möchte. Ich halte es für völlig falsch, unseren Einsatz für Minderheiten zu diskreditieren, um vorgeblich Mehrheiten zu gefallen.

Industriearbeitsplätze, die durch die Digitalisierung verloren gehen werden...

Das ist zu einer Angstdebatte geworden - anstatt, dass wir es uns zur Aufgabe gemacht haben, die großen Chancen dieses Wandels zu begreifen. Selbstverständlich fallen Arbeitsplätze weg und es wird eine Lücke geben, bis neue entstehen. Aber es werden neue kommen, die eine ganz andere Qualifikation erfordern. Wir sollten da aber keine Angst schüren, sondern erzählen, welche Chancen auch darin liegen. Zum Beispiel, wie wir Arbeit auch mit radikaler Arbeitszeitverkürzung neu verteilen können. Wir müssen eine Balance finden zwischen der bezahlten Erwerbsarbeit und der unbezahlten ehrenamtlichen Arbeit, Pflege- und anderer gemeinnütziger Arbeit, die leider immer noch weiblich ist.

Und das kann ein stärkerer Sozialstaat übernehmen?

Wir sollten die Daseinsvorsorge, inklusive Gesundheit, Bildung, Wohnen, Kultur, Energie und Wasser, Verkehrsinfrastruktur, wieder zurück in die öffentliche Hand geben. All das hat nichts in der privaten Wirtschaft zu suchen, wo Profite erwartet werden, die die Bürgerinnen und Bürger bezahlen müssen.

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