Sowjetische Geschichte:Wie Stalin wirklich war

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Stalins Enkel kämpft vor Gericht für ein geschöntes Bild des früheren sowjetischen Diktators - die Obrigkeit sieht wohlwollend zu.

Frank Nienhuysen

Natürlich gibt es Verlierer wie Nina Wlasjanko, denen das Leben heute schwerer fällt. Und deshalb ist sie auch zum Gericht gekommen und sitzt nun direkt neben dieser braunen Tür. In der Hand rote Nelken, umhüllt von Cellophanpapier, auf dem Schoß ein goldgerahmtes Bild von Stalin.

Das Bild des früheren Diktators Josef Stalin - eine umstrittene Sache. (Foto: Foto: dpa)

So wartet sie vor dem Verhandlungssaal Nummer 7 und sagt leise: "Den Namen Stalins will ich schützen." Wlasjanko ist eine ältere Dame, und ihre persönliche Rechnung geht so: "Früher habe ich für 40 Tage im Pionierlager nur 18 Rubel bezahlt und für eine Dreizimmerwohnung in Moskau 13 Rubel. Jetzt sind es 1500 Rubel - für nur zwei Zimmer."

Doch als Nina Wlasjanko in den siebziger Jahren noch 18 Rubel für das Pionierlager bezahlte, war Stalin schon etwa 20 Jahre tot, und ihn offen zu preisen ist eine Sache, die man einfach nicht tat. Nun aber begann im Moskauer Basmannyj-Gericht ein Prozess, in dem Stalins Enkel Jewgenij Dschugaschwili selbstbewusst als Kläger auftritt.

Er will für das Ansehen des Diktators kämpfen. Dschugaschwili geht gegen die liberale kritische Zeitung Nowaja Gasjeta vor, die im April einen Artikel veröffentlicht hat, der nach Ansicht Dschugaschwilis die Ehre seines Großvaters erniedrigt. Er verlangt eine moralische Entschädigung in Höhe von 300.000 Dollar, dafür ist er extra aus Tiflis angereist.

Am Tag der ersten Anhörung meldete er sich krank, doch der Termin wurde dann ohnehin auf Oktober verschoben, weil der Anwalt der Zeitung um mehr Zeit zur Akteneinsicht gebeten hatte. Schon nach einer halben Stunde kommt Genri Resnik aus dem Saal, ein großer Mann mit schneeweißem Schopf und tiefer Stimme, und sagt: "Dieser Prozess ist sehr ungewöhnlich."

Offene Unterstützung für den Diktator

Vor 20 Jahren hätten zwar ein paar Kommunisten Ähnliches versucht, damals sei die Klage einfach abgewiesen worden. Als Resnik weitergeht, schreien ihn zwei ältere Frauen an: "Sie seelenloser Mensch." Eine von ihnen, außer sich vor Zorn, stellt sich als "sowjetischer Mensch" vor, woraufhin ein Sicherheitsbeamter sie ermahnt: "Per Gesetz sind Sie jetzt Russin."

Dass der Prozess des Stalin-Enkels überhaupt zugelassen wurde, ist nach Ansicht von Oppositionellen, Menschenrechtlern und Angehörigen der Opfer ein entlarvender Vorgang. "Es gibt in der russischen Gesellschaft ein verändertes Denken über Stalin", sagte Anatolij Jablokow vor einigen Wochen bei einer Voranhörung, "wir hören zur Zeit viel mehr darüber, was für ein effektiver Manager er doch gewesen sei und viel weniger über seine Repressionen."

Jablokow, ein Anwalt, war früher Ermittler der russischen Militärstaatsanwaltschaft. Er war es, der im April in einer Beilage der Nowaja Gaseta mit dem Titel "Die Wahrheit des Gulag" den Stalin-Nachfahren erzürnte. Darin bestätigte Jablokow unter anderem, Stalin und Mitglieder des Politbüros hätten die Massenerschießung polnischer Offiziere 1940 in Katyn beschlossen.

Dschugaschwili missfiel auch der Satz: "Stalin und die Tschekisten sind mit Blut besudelt, durch schwerste Verbrechen, vor allem gegen das eigene Volk." Stalins Enkel, der mit seinem Bürstenschnitt und dem Schnauzer seinem Großvater ähnelt, ließ über seinen Anwalt ausrichten, dass "schon ein halbes Jahrhundert lang Lügen über Stalins Ruf ausgegossen wurden, ohne dass er sich vom Grab aus selber verteidigen kann".

Dabei erhält der Nachkomme des Diktators immer mehr offene Unterstützung. Erst vor wenigen Wochen wurde eine Moskauer Metrostation im Stil der fünfziger Jahre renoviert, samt eingravierter Huldigung an Stalin. Es ist schwer vorstellbar, dass dies ohne die Rückendeckung der Moskauer Behörden geschehen ist - und öffentlicher Protest aus dem Kreml war auch nicht zu vernehmen.

Der russische Abgeordnete Sergej Obuchow, Mitglied der Kommunistischen Partei, vermutet sogar einen Zusammenhang mit der bevorstehenden Wahl der Moskauer Stadtduma Anfang Oktober. "Die Partei Einiges Russland schneidet gewöhnlich in Moskau schlechter ab als in den Regionen. Es könnte also der Versuch sein, Stimmen älterer Wähler zu gewinnen, die Stalin positiver gegenüberstehen", schrieb Obuchow in der Moscow Times.

Streit um eine Stalin-Inschrift

Im Übrigen könne der Verlust von Menschenleben kaum das einzige Kriterium dafür sein, ob ein Name auf einem historischen Gebäude bewahrt werde. "Sonst müssten die Europäer auch einen großen Teil ihres kulturellen Erbes zerstören, einschließlich der Denkmäler von Cromwell und Napoleon."

Doch es gibt auch Russen, die sich die Verbrechen Stalins nicht schönreden lassen wollen. Hunderte Menschenrechtler drängen in einem Brief die Moskauer Behörden, die Stalin-Inschrift an der Metrostation Kurskaja wieder zu entfernen.

Denn dies sei ein "offenes und unverschämtes Signal zur vollständigen Rehabilitierung Stalins", sagte Oleg Orlow, Leiter der Organisation Memorial. Und der Historiker und Oppositionspolitiker Wladimir Ryschkow sprach von einem Revisionismus des Kremls, mit dem der eigene autoritäre Politikstil gerechtfertigt werden soll.

Die russische Regierung laviert herum, ist opportunistisch genug, um Stalin zu verharmlosen. Andererseits hat sie nun das Buch "Archipel Gulag", in dem Alexander Solschenizyn das menschenverachtende Lagersystem beschreibt, zur Pflichtlektüre in der Schule erhoben. Und die russisch-orthodoxe Kirche befasst sich verstärkt mit den Opfern des Stalinismus, wenngleich hauptsächlich mit jenen der eigenen Kirche.

Über die Rolle Stalins wird in Russland jedenfalls diskutiert, und Genri Resnik, der Anwalt der Nowaja Gaseta im Gerichtsverfahren, sagt: "Einen Schlusspunkt unter die Vergangenheit kann der Prozess nicht setzen. Er betrifft ja auch die Gegenwart."

© SZ vom 19.09.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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