Medienreaktionen:"Wenn dies ein Aufbruch ist, dann höchstens einer in Filzpantoffeln"

Die große Koalition steht vor einer Neuauflage. Viele Medien bescheinigen CDU, CSU und SPD aber Ideenlosigkeit und fehlenden Mut. Ein Blick in die Presse.

CDU, CSU und SPD haben sich darauf geeinigt, mit Koalitionsverhandlungen zu beginnen. Obwohl die SPD direkt nach der Bundestagswahl im vergangenen September verkündet hatte, mit der Union nicht mehr gemeinsam regieren zu wollen, deutet jetzt alles auf eine Fortsetzung der großen Koalition hin. In der nationalen und internationalen Presse sind die Reaktionen auf die erfolgreich beendeten Sondierungsgespräche verhalten. In den Ergebnissen würden große politische Neuerungen fehlen, so der Tenor.

Ergebnisse der Sondierungsgespräche von Union und SPD

"Wir wollen eine stabile und handlungsfähige Regierung bilden, die das Richtige tut" schreiben die Sondierer in ihrem Abschlusspapier. Lesen Sie das 28-seitige Dokument hier.

Die Frankfurter Rundschau vermutet, dass die erzielten Kompromisse nicht reichen werden, um die SPD-Mitglieder von der großen Koalition zu überzeugen.

"Lieblingsprojekte wie die Bürgerversicherung oder höhere Steuern für diejenigen mit sehr hohen Einkommen und auch die vom SPD-Vorsitzenden Martin Schulz im Wahlkampf immer wieder geforderte Abschaffung der sachgrundlosen Befristung konnten die Sozialdemokraten in den Sondierungsgesprächen nicht durchsetzen. Dennoch konnten sie zählbare Erfolge erzielen, die das Leben vieler Menschen verbessern können. Arbeitgeber sollen wieder genauso viel zur gesetzlichen Krankenversicherung beitragen wie Arbeitnehmer. Die Rente soll für alle stabilisiert werden. Doch es wird nicht ausreichen, um die SPD-Mitglieder von einem Bündnis zu begeistern, das viele von ihnen nicht mehr wollen. Die SPD-Führung hat also noch viel Arbeit vor sich, um die eigenen Mitglieder zum Mitmachen zu bewegen."

Der Tagesspiegel in Berlin spekuliert, wie aus der Krise doch noch etwas Gutes wachsen könnte.

"Wenn es so käme wie im vereinbarten Papier, wäre das Beste, was man von dieser Koalition am Ende der Legislaturperiode sagen könnte, dass sie eine Arbeitsregierung gewesen sei - und keine der Träume. Wenn es so käme, würden auch die Volksparteien das Vertrauen zurückgewinnen können, das die Wähler der CDU, der SPD und der CSU am 24. September so deutlich entzogen haben. Wenn dann noch Deutschland künftig wieder seine Verantwortung in Europa und in der Welt wahrnehmen würde - auch für den Willen dazu gibt es im Sondierungspapier ja klare Hinweise - könnte am Ende aus der Krise doch noch etwas Rettendes erwachsen."

Für die Nürnberger Nachrichten sind die Kompromisse eine Notlösung, doch immerhin hätten die Beteiligten den Mut zum Regieren aufgebracht.

"Mit den beteiligten Akteuren war mehr wohl wirklich nicht machbar. Das Paket wäre eine Art Notlösung; es könnte den momentan noch erträglichen, auf längere Zeit jedoch unhaltbaren Zustand beenden, dass Deutschland ohne kräftige Regierung dasteht. Den Mut zum Regieren immerhin haben die Beteiligten aufgebracht - für mehr, für klügere, zukunftsfähigere, im Idealfall begeisternde Konzepte haben sie wohl weder den Mut noch die Ideen."

Der Stuttgarter Zeitung fehlt in den Ergebnissen etwas mehr Mut.

"Die Bürger erhielten ein ordentliches Paket, das kaum eine gesellschaftliche Baustelle auslässt. Und doch findet sich im Sondierungspapier kein einziges Vorhaben, das mehr wäre als die Fortschreibung der bestehenden Politik, etwas Mutiges, Überraschendes gar, das als Aufbruchssignal taugen könnte - obwohl viel von Zukunft die Rede ist. Das Programm für mehr bezahlbaren Wohnraum erhält kaum mehr Geld, die allseits versprochene Einkommensteuersenkung fällt aus. Die große Koalition denkt wiederholt zu klein. Das gilt gerade für die Europapolitik. Sicher wäre es gut, wenn Deutschland im politisch aufgewühlten Europa eine zuverlässige Regierung bekäme. Die Groko-Partner müssten aber mehr gegen den Überdruss im Innern unternehmen, der Europa auf Dauer genauso destabilisiert"

Auch die Freie Presse in Chemnitz ist von dem Ausgang der Sondierungsgespräche nicht wirklich überzeugt.

"Wenn dies ein Aufbruch ist, dann höchstens einer in Filzpantoffeln, gemächlich und obendrein reichlich teuer. Dafür darf jede Partei einen Triumph mit nach Hause nehmen: die CSU etwa die Begrenzung der Zuwanderung, die CDU die Absage an die Steuererhöhungen und SPD die leichtere Rückkehr in Vollzeit. Aber immerhin, die erste Etappe in Richtung Groko wäre geschafft. Nun ist die SPD-Basis am Zug. Sie hat es in der Hand. Der Ausgang ist völlig offen."

Die Hannoversche Allgemeine Zeitung findet die Ergebnisse nicht perfekt, ist aber ganz zufrieden.

"Kein Wunder, dass sich die Verhandlungen der Sondierer um einige Stunden in die Länge gezogen haben - sie haben in viereinhalb Tagen mehr angestoßen als sonst in einem Jahr. Das bedeutet nicht, dass alles an diesem Papier gelungen wäre. Der Aufbruch nach Europa ist mehr Rhetorik als Überzeugung, das Abrücken von Klimazielen ein schmerzhafter bis verantwortungsloser Rückschritt und die hasenfüßige Flüchtlingspolitik eine Reaktion auf das Erstarken der Rechten in Deutschland. Aber das ist das Wesen von Kompromissen: Ihre Ergebnisse sind nie perfekt."

Das Ausland reagiert mit leichtem Misstrauen

Der britische Guardian meint, die Parteien sollten sich noch Zeit lassen, ihren Kompromiss zu feiern.

"Zwar hat Angela Merkels konservativer Block aus CDU und CSU einen Koalitionsdeal mit der Mitte-Links-SPD von Martin Schulz erreicht. Aber es ist längst noch nicht sicher, dass dieser Deal Bestand haben wird. (...) Vieles wird davon abhängen, ob das vereinbarte Sondierungsdokument nach Einschätzung der SPD-Basis ihre Forderungen ausreichend genug berücksichtigt, um das im vergangenen Jahr weit verbreitete Gefühl überwinden zu können, dass die Partei besser in der Opposition aufgehoben wäre, als zum dritten Mal Juniorpartner einer von Merkel geführten Koalition zu sein."

Die Neue Zürcher Zeitung bescheinigt den beteiligten Parteien Ideenlosigkeit.

"Die Konturen des Koalitionsprogramms, auf die sich die Parteien verständigt haben, verweisen auf die fortgesetzte Verwaltung des Aufschwungs, auf ein paar Umverteilungsmanöver bei den Sozialversicherungen, ein paar Milliarden Euro mehr für Schulen und Kindergärten sowie einige neue, die Unternehmen belastende Rechtsansprüche für Arbeitnehmer. Viel mehr ist da nicht. Das Reservoir an Ideen und Projekten der großen Koalition hat sich schon in der letzten Regierungsperiode erschöpft. Für Zukunftsgestaltung fehlt die Kraft."

Der ebenfalls in der Schweiz ansässige Tages-Anzeiger vermutet in der Neuauflage der großen Koalition eine Art Übergangsregierung.

"Dies gilt umso mehr, als es von jenen Veteranen angeführt würde, die aus der Ära Merkel halt noch übrig blieben - Kanzlerin inklusive. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass es Deutschland unter einer solchen Regierung keinesfalls schlecht ergehen muss, im Gegenteil. Aber eine Politik, die den großen Herausforderungen der Zukunft mit ihrem Anspruch tatsächlich gerecht wird, wird daraus kaum entstehen."

Die niederländische Zeitung de Volkskrant hält die große Koalition für zerbrechlicher denn je.

"Zweifellos sind jedoch viele von ihnen nicht glücklich mit einer weiteren Vertiefung der europäischen Integration, zu der sich die künftige große Koalition bekennt. Die AfD, die drittgrößte Partei im Bundestag, dürfte daraus Argumente für eine kräftige Oppositionspolitik gewinnen. Selbst wenn der SPD-Parteitag am 21. Januar einer Regierung Merkel/Schulz den Segen erteilt, wirkt diese Koalition zerbrechlicher als alle bisherigen in der Ära Merkel seit 2005. Das Hauptverdienst dieser "Koalition, die niemand will" dürfte denn auch darin bestehen, dass sie "Neuwahlen, die niemand will" verhindert."

Die italienische Zeitung La Repubblica weist darauf hin, vor welch großer Aufgabe der SPD-Vorsitzende Martin Schulz jetzt steht: Er muss Partei von der großen Koalition überzeugen.

"Werden trotz einer gescheiterten Reichensteuer, der geplatzten Bürgerversicherung und einer viel restriktiveren Flüchtlingspolitik die erzielten Schritte ausreichen, um die Basis davon zu überzeugen, dass eine große Koalition hilft, linke Wählerstimmen zurückzugewinnen? Wenn ein Argument die Basis von einer Merkel-Regierung überzeugen kann, ist es das: Es wird die letzte sein."

Der in Österreich erscheinende Standard bescheinigt den Parteien immerhin, schneller gehandelt zu haben als zuvor die Beteiligten eines möglichen Jamaika-Bündnisses.

"Anders als bei den Jamaika-Verhandlungen zwischen Union, FDP und Grünen waren die Sondierer diesmal äußerst schnell, hatten offenbar intern weniger Querelen als die erfolglosen Sondierer von Union, FDP und Grünen und legten dann auch noch ein Ergebnis vor. Getrieben hat sie nicht die Lust auf weitere gemeinsame schwarz-rote Jahre am Kabinettstisch, sondern die Angst vor Neuwahlen."

Die spanische Zeitung El Mundo ist vom Pragmatismus der beteiligten Parteien überzeugt.

"Die christdemokratische Kanzlerin Angela Merkel und Sozialistenchef Martin Schulz haben gestern eine Einigung auf Verhandlungen über die Fortsetzung der großen Koalition erreicht, die den Deutschen die bis vor kurzem wahrscheinlich scheinenden Neuwahlen ersparen würde. Die Parteibasen werden das letzte Wort haben. Aber der Pragmatismus, der die Politik des europäischen Giganten seit jeher kennzeichnet, lässt vorhersagen, dass es weißen Rauch geben wird."

In den Gesprächen hatten sich Union und SPD geeinigt, den harten Kurs der Bundesregierung gegenüber der Türkei fortzusetzen. Die türkische Zeitung Aksam, die als regierungsnah gilt, reagiert entsprechend wütend.

"Türkeifeindlichkeit ist der gemeinsame Punkt der Koalition geworden, die nach 110 Tagen gebildet werden konnte".

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