Sinn und Unsinn von G-20-Gipfeln:Naivität und falsche Solidarität führen zum Debakel

In einer hochkomplexen Welt ist es wichtig, dass sich die Chefs der wichtigsten Staaten treffen. Dass der G-20-Gipfel in Hamburg durch Gewalt überschattet wurde, liegt nicht nur an Fehlern der Politiker.

Kommentar von Stefan Braun

Straßenschlachten, Gewaltexzesse, marodierende Banden in schmucken Wohnvierteln - die Bilder entgrenzter Gewalt aus Hamburg sind dramatisch, erschreckend, verstörend gewesen. Sie sind schlimmer und verheerender ausgefallen, als sich das alle an der Organisation Beteiligten je vorstellen konnten.

Wäre es also an der Zeit, solche Gipfeltreffen aufzugeben? Schluss zu rufen und Adieu zu sagen, weil die schiere Größe eine umfassende Kontrolle unmöglich macht, siehe Hamburg? Man könnte ja aufs Telefon verweisen, auf die Vereinten Nationen, auf bilaterale, trilaterale oder noch etwas größere Treffen, um die Kontakte weiter zu pflegen. Und doch: ein solcher Reflex wäre die falsche Antwort auf den G-20-Gipfel von Hamburg. Es wäre grundfalsch, den Gewalttätern und Chaoten diesen Erfolg zu schenken.

Der Grund dafür darf aber nicht falscher Stolz sein. Also eine Dickköpfigkeit, die im tiefen Ärger blind macht. Treffen wie die von Hamburg soll und muss es weiter geben, weil sie mindestens zwei Bedeutungen haben, die nicht groß genug eingeschätzt werden können.

Zum einen muss bei diesen Treffen auch der trotzige, ewig beleidigte Staatschef aus seiner Höhle kommen. Er muss sich zeigen; er steht in der Pflicht, seinem Land auf großer Bühne nicht durch Rüpeleien oder Unverschämtheiten Schaden zuzufügen. Wer in Hamburg den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan, Russlands Präsident Wladimir Putin oder auch US-Präsident Donald Trump beobachtet hat, der sah Männer, die politisch extrem schwierig bleiben, aber sich auf keinen Fall blamieren wollten. Nicht sich selbst und nicht ihre Menschen zu Hause. Das diszipliniert auf eine Weise, die nicht denkbar wäre, wenn sie nur aus ihrem heimischen Palast heraus schimpfen, wettern oder twittern würden.

Viele Europäer erahnen nicht, wie gut es ihnen geht

Die Probleme der Welt, sei es der Klimawandel, seien es die Migrationsströme, die Hungerkrisen oder die ungleiche Verteilung von Reichtum, sind zu groß, um auf solche Chancen der gruppenpsychologischen Disziplinierung zu verzichten. Hinzu kommt etwas Zweites. Diese Gipfel spiegeln die Welt wider, wie sie tatsächlich ist. Nämlich verdammt schwierig, sehr heterogen, alles andere als einfach.

Das mag eine Binsenweisheit sein, aber nicht selten hat man den Eindruck, dass vor allem viele Menschen in Europa bis heute nicht erkennen (oder erkennen wollen), auf was für einer vom Glück beschenkten Insel sie leben. Der Kontinent mag gemessen an anderen Kontinenten klein sein. Aber er beherbergt in klimatisch zum großen Teil angenehmen Umständen liberale, freie, vor Kriegen behütete Menschen, die gemessen an der Situation in anderen Weltgegenden sehr beschützt leben können.

Natürlich verschleiert die Bühne eines Gipfeltreffens manche Konflikte. Aber Hamburg hat offen gelegt, wie divers und kompliziert die Welt geworden ist. Das haben die Beschlüsse gezeigt - und der mühsame Weg, um sie zu erreichen. Sicher, man kann sagen, dass die US-Regierung beim Klima weiter mauert und das Pariser Abkommen aushebeln möchte. Aber man kann nach Hamburg auch sagen, dass sich die 19 anderen Staaten, darunter China, Indien und Russland, nicht vom eingeschlagenen Weg abbringen lassen möchten. Das ist kein schlechtes Signal Richtung Washington.

Nicht viel anders verhält es sich mit der Erklärung zum Welthandel. Und tatsächlich gar nicht schlecht, sondern einigermaßen zufriedenstellend ist der Wille, im Kampf gegen den Terror sowie gegen verheerende neue Epidemien durch wachsende Antibiotika-Resistenzen enger zu kooperieren. Das ist kein Durchbruch und kein Paukenschlag. Aber es ist trotzdem dringend nötig.

Und zu begrüßen ist die Entscheidung, über die Weltbank künftig mittels Kleinkrediten vor allem Frauen in Entwicklungsländern stärker zu fördern. Man muss an der Stelle nicht auf die Lobeshymnen derer reinfallen, die sich dafür in Hamburg auf die Schulter geklopft haben, um zu erkennen: Das ist eine gute Idee, wenn auch nicht eine ganz neue.

Politik hat die Probleme unterschätzt

Ein Debakel ist Hamburg trotzdem geworden. Und das liegt selbstverständlich nicht an den Zigtausenden friedlicher Demonstranten. Sie haben völlig zurecht Kritik geübt an einer viel zu langsamen Reaktion auf die großen Krisen. Nichts daran kann falsch sein - im Gegenteil, diese Proteste und Demonstrationen sind überlebensnotwendig, um Politik immer neu anzutreiben. Nichts daran ist banal; alle, die sich da engagieren, sind wichtig.

Das Debakel von Hamburg trägt einen anderen Namen. Es sind die vermummten Gewalttäter; es ist die Naivität der Politik, die dieses Problem der brutalen Krawallmacher unterschätzt hat. Und es sind die Protest-Organisationen, die nicht wahrhaben wollen, dass es diesen Straftätern nur um die pure Gewalt geht und sie mit redlichen politischen Anliegen nichts zu tun haben. Darin und in der puren Lust auf größtmögliche Gewalt ähneln sie Hooligans.

Diese Mischung aus Naivität, entgrenzter Gewalt und falsch verstandener Solidarität hat an der Alster Bilder geschaffen, die die kollektive Erinnerung dominieren werden. Es muss verwundern, dass Polizei und friedliche Protest-Organisationen die Lage derart unterschätzen konnten. Dass G-20-Treffen - wie einst das G-7-Treffen von Genua - ein Happening für Gewaltsüchtige sein können, das musste man einfach befürchten.

Bundesregierung und Hamburger Senat haben schwere Fehler gemacht

Dabei gilt die erste Kritik den Politikern, also der Bundesregierung wie dem Senat in Hamburg. Wenn man so etwas veranstalten will, muss man die Polizei darauf vorbereiten. Man muss das Potenzial einigermaßen kennen und im Zweifel frühzeitig so viel Polizei organisieren und vorbereiten, dass es marodierenden Banden niemals gelingen kann, ganze Straßenzüge anzuzünden.

Natürlich passieren immer Überraschungen. Aber Polizeikräfte vorhalten, und zwar genügend davon, das hätte möglich sein müssen, wenn man im Vorfeld nicht vom bestmöglichen, sondern vom schlimmstmöglichen Szenario ausgeht. Dies nicht getan zu haben, ist ein schweres Versäumnis. Dass Bund und Hansestadt Entschädigungen zugesagt haben, ist gut und richtig. Aber es kann das Versäumnis nicht überdecken.

Die zweite Kritik gilt jenen, die selbst nach der ersten Nacht noch erklärten, man müsse weiter gemeinsam marschieren. Nein, das muss man nicht. Und sollte eine Bewegung wie Attac glauben, dass es niemandem etwas bringe, wenn sie sich von den Gewalttätern distanziere, dann fragt man sich, wie viel rechtsstaatliches und demokratisches Verständnis in den Köpfen ihrer Verantwortlichen überhaupt vorhanden ist.

Hinzu kommt, dass es in Hamburg auch noch unendlich viele Schaulustige gab, die dem gewalttätigen Treiben fröhlich zusahen. Sie betrachteten es als Happening, dass Leib und Leben der Polizisten in Gefahr waren. Das kann man nach schwer erträglichen zweieinhalb Tagen nicht der Politik ankreiden. Es lässt einen an der Gleichgültigkeit mancher Menschen verzweifeln.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: