Sigmar Gabriel und die Parteibasis:Parieren ohne Rücksicht auf Verluste

Lesezeit: 5 min

Sigmar Gabriel auf der Regionalkonferenz der SPD: Der Vorsitzende nimmt kein Blatt mehr vor den Mund. (Foto: dpa)

SPD-Chef Gabriel wirbt bei der Parteibasis um ein Ja zur großen Koalition. Die Mitglieder erleben eine Vorsitzenden, der kein Blatt mehr vor den Mund nimmt - vor allem gegenüber seinen eigenen Leuten.

Von Nico Fried, Bruchsal

Eine gute Viertelstunde lang hat Sigmar Gabriel seiner Basis schon die Leviten gelesen, als er sich zum ersten Mal ein wenig sanfter gibt: "Seid mir nicht böse, ich halte sonst auch lieber nettere Reden", sagt der SPD-Vorsitzende. "Aber ich kann Euch die Ausflüchte nicht durchgehen lassen." Es ist so etwas wie eine erste Atempause für die rund 300 Sozialdemokraten im Bürgerzentrum Bruchsal. Sie sind überall aus dem Badischen zur ersten Regionalkonferenz der SPD mit dem Vorsitzenden gekommen, vermutlich in der Erwartung, dass Gabriel für die große Koalition wirbt, für die Ergebnisse, die in den Verhandlungen mit der Union von der SPD erreicht wurden. Das tut er auch. Aber was sie außerdem erleben, ist ein Vorsitzender, der kein Blatt mehr vor den Mund nimmt - vor allem gegenüber seinen eigenen Leuten.

Gabriels eigentliches Thema ist die Verantwortung. Aus seiner Sicht hat die nun jedes SPD-Mitglied, nachdem die Partei sich entschieden hat, über ihre Regierungsbeteiligung basisdemokratisch abzustimmen. "Mit dem Mitgliedervotum trägt jedes Mitglied die gleiche Verantwortung wie der Vorsitzende", sagt Gabriel. Und damit verbindet er den Appell, dass es sich die SPD nicht einfach machen, nicht nur aus dem Bauch entscheiden dürfe: "Mehr Demokratie wagen heißt doch nicht: Das geht mit weniger Nachdenken", ruft Gabriel.

Der Redebedarf ist hoch

Schon in seinen ersten Sätzen trägt er mächtig auf. "Ihr widmet Euch einer der schwierigsten Aufgaben der SPD in den letzten 20, 30 Jahren", sagt er mit Blick auf die Entscheidung über die Regierungsbeteiligung. "Und das entscheidet über die Wahrnehmung der SPD in den nächsten Jahren, ja, vielleicht Jahrzehnten." Die SPD sei noch sehr mit sich selbst beschäftigt. Es komme aber darauf an, "wie uns die Leute wahrnehmen, die auf uns gesetzt haben".

Dann trägt er vor, worüber in Berlin verhandelt werde. Er spricht nicht von Ergebnissen, sondern von dem, was erreicht werden könne. Es ist eine lange Aufzählung: Mindestlohn, Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen, Begrenzung von Zeit- und Leiharbeit, Mindestrente von 850 Euro, Erwerbsminderungsrente, abschlagsfreie Rente nach 45 Jahren, Entlastung der Kommunen, Frauenquote, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Rückkehr nach Teilzeit in Vollzeit, mehr Pflegekräfte und bessere Bezahlung, Mietpreisbremse, doppelte Staatsbürgerschaft, Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit in Europa, Bankenregulierung, Transaktionssteuer, bezahlbare Energiewende.

Und dann stellt er nur eine Frage: "Wenn wir das hinkriegen und dann lehnt die SPD den Koalitionsvertrag ab - was sind wir dann für eine Partei geworden?" Und für alle, die es immer noch nicht kapiert haben, schaufelt der SPD-Vorsitzende im 150. Jahr der Parteigeschichte jetzt das Pathos wie mit einem Bagger in den Saal: "Wir können nicht bewundernd Menschen feiern, die für die Sozialdemokratie Freiheit, Leben und Gesundheit geopfert haben, und dann bei so einer Liste sagen: Machen wa nich."

Lang sind die Schlangen an den Saal-Mikrofonen. Der Redebedarf ist hoch. Warum keine Steuererhöhungen? Was ist mit den Zusatzbeiträgen in der Krankenversicherung? Asyl für Edward Snowden? Klimaschutz? Das Problem mit den Listen ist, dass jeder Sozialdemokrat seine eigene Liste zu haben scheint. Das war am Vorabend in Leinfelden-Echterdingen nicht anders, als SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles ihre erste Regionalkonferenz bestritt.

Es geht doch nur um eine große Koalition, könnte man einfach sagen. Aber einfach darf nichts sein dieser Tage in der SPD. Deshalb legt auch Nahles eine ordentliche Portion Pathos in ihre Worte und sagt, worum es wirklich geht: "Können wir die Weichen stellen, damit es Millionen Menschen besser geht?" Das müsse der Anspruch sein. "Darum geht es", sagt Nahles. Zu ihr in die Filderhalle sind knapp 200 SPD-Mitglieder gekommen, wenn man mal ein wenig großzügig zugunsten der Partei schätzt.

Millionen Menschen soll es also besser gehen. Das Problem, das sich damit eröffnet, besteht darin, dass es womöglich mehrere Millionen sein müssen, denn die Basis der SPD ist nicht nur sehr anspruchsvoll, sondern ausgesprochen diversifiziert. Schon die erste Rednerin in Leinfelden, Leni Breymaier, macht deutlich, dass sie einen sehr individuellen Zugang wählen wird auf dem Weg zu ihrer Entscheidung im Mitgliedervotum: "Ich habe meine Leidenschaftsthemen. Und ich möchte, dass meine Leidenschaftsthemen im Koalitionsvertrag berücksichtigt werden." Wenn das so käme, würde sie zustimmen.

Es gibt an diesem Abend rund 30 Wortmeldungen. Lauter Leidenschaftsthemen. Nahles antwortet geduldig. Aber was die Leidenschaftsthemen angehe, warnt sie auch: "100 Prozent werden wir nicht schaffen, das kann ich jetzt schon sagen."

Bleibt noch die Frage, die von manchen offen gestellt wird und bei anderen nur mitschwingt: Wie könne die SPD vermeiden, aus dieser großen Koalition wieder so schlecht herauszukommen wie aus der letzten? Da wird auch Nahles einmal richtig hart: "Es stört mich, wenn hier so ein beknackter Angstdiskurs geführt wird in unserer Partei", schimpft sie. "Wenn wir kämpfen wollen für sozialdemokratische Themen, dann müssen wir da auch reingehen."

Gegen das, was Sigmar Gabriel am nächsten Tag in Bruchsal sagen wird, ist das allerdings noch sanft. Und ausgelöst wird die Suada nicht von einem der vielen älteren Herren, die sich zu Wort melden, sondern von einem jungen Genossen, der genau an diesem Samstag auch noch seinen 17. Geburtstag feiert. Er fragt nach Rot-Rot-Grün. Da klatschen gar nicht so viele Genossen, aber Gabriel nutzt die Gelegenheit trotzdem für eine, nun ja, Klarstellung.

"Die SPD hat ein folkloristisches Verständnis von der Linkspartei", sagt Gabriel und meint damit offensichtlich, dass sie immer noch für einen sozialdemokratischen Ableger gehalten werde. "Aber ich bin Vorsitzender der SPD und es gibt Gründe, warum ich glaube, dass die Linke keine sozialdemokratische Partei ist." In der Fraktion säßen Leute, die sich so sehr hassten, "dass man vielleicht noch einen Kanzler wählen könnte, aber diese Regierung würde nicht ein halbes Jahr überleben". Die Linke sei in sich tief gespalten, sagt Gabriel, sie akzeptiere die Schuldengrenze nicht und habe ein Geschichtsverständnis, das sich mit dem der Sozialdemokraten nicht decke. "Es geht doch nicht um Gregor Gysi, das ist ein netter Kerl", sagt Gabriel. "Aber die Partei ist doch völlig anders." 2017, vielleicht. Aber nicht die SPD müsse sich bis dahin ändern. "Die müssen sich ändern."

Ohne Rücksicht auf Verluste

Willy Brandt. Den zitiert Gabriel gerne in diesen Tagen. Diesmal ruft er den Satz in Erinnerung: "Besinnt Euch auf Eure Stärke." Da bekommt er einen Zwischenruf: Ja, wo ist denn die? Der kommt dem Parteichef gerade recht. Dass Stärke fehle, liege an den Fehlern, die man gemacht habe. Aber er meint damit nicht die Agenda 2010 oder anderes, was von der Basis gerne angeführt wird. Er meint, dass die Union die Ungerechtigkeit der fehlenden Rente für Mütter entdeckt habe, die vor 1992 Kinder bekommen haben. "Die SPD hat das mit vielen systematische Gründen abgelehnt", sagt Gabriel. "Das hatte nur mit der Lebenswirklichkeit der Menschen nichts zu tun." Und bei der Absenkung der kalten Progression sei es ähnlich gewesen. "Die Leute haben nur verstanden: Wir lehnen das ab."

Gabriel bekommt Applaus, aber auch weitere Zwischenrufe. Auch die pariert er ohne Rücksicht auf Verluste: "Hermetisch" wirke die Partei in ihrer Art zu debattieren. "Bei der CDU geht's immer ums Regieren. In der SPD geht's immer um's Recht haben`, sagt Gabriel. Und fügt sarkastisch hinzu: "Das könnte der Grund sein, warum die länger regieren."

Und weil er gerade dabei ist, räumt Gabriel auch noch alle anderen Optionen beiseite, die ihm die Skeptiker in der SPD hinhalten, die aber aus seiner Sicht nur dazu dienen sollen, "dass wir nicht in die Regierung gehen". Nicht in die Verantwortung. "Schwarz-Grün im Bund, damit wir es netter haben? Minderheitsregierung der Union? Seid mir nicht böse: Ich weiß gar nicht, warum Frau Merkel in eine Minderheitsregierung gehen soll. Dann gibt es eben Neuwahlen. Und wer glaubt, danach steht die SPD besser da, der ist ein großer Optimist."

Danach arbeitet Gabriel noch die Fragenliste ab. Als sei nichts gewesen.

© Süddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: