Sicherungsverwahrung:"Sollen wir sie alle nach Helgoland bringen?"

Welch ein Paradox: Der Staat hat die Sicherungsverwahrung zu eifrig verschärft. Nun kommen gerade deswegen Dutzende gefährlicher Straftäter frei.

Joachim Käppner

Noch im Gerichtssaal reichte sein Blick, um Zeugen Angst einzujagen. Der Mann zeigte böse Miene, Tätowierungen, viele Muskeln und keine Reue. Obwohl er die Tat bestritt, verurteilte ihn ein Münchner Gericht 2003 als den "Westparkmörder" zu zehn Jahren Jugendstrafe. Der Slowene Goraszd B. hatte laut Urteil an einem Oktoberabend des Jahres 1993 im Münchner Westpark einen Familienvater erstochen, mit zahllosen Messerstichen und ohne jeden Anlass. Zunächst war er unerkannt entkommen.

Kriminalität

Eigentlich endet in Deutschland jede Haftstrafe irgendwann. Es sei denn der Häftling wird in Sicherungsverwahrung genommen.

(Foto: ag.dpa)

B., damals 18 Jahre alt, verletzte in den folgenden Monaten einen Schüler mit einem Butterflymesser lebensgefährlich; er trat einen Disco-Türsteher zusammen und beging als Mitglied der Marienplatz- Gang, einer Münchner Jugendbande, rohe Raubüberfälle auf Schüler. Selbst bei seinen Kumpanen war er gefürchtet. 1995 bekam er wegen dieser Taten fünf Jahre Jugendhaft. Aber erst zwei Jahre später identifizierte die Justiz B. auch als Mörder vom Westpark.

Solche Mordtaten sind im Bewusstsein der Öffentlichkeit ja die grausigsten: der Einbruch nackter, entgrenzter Gewalt in den ganz normalen Alltag. Konrad Hierl, Vater von zwei Kindern, war damals im Westpark auf dem Heimweg, in einer eigentlich sicheren Stadt, einem sicheren Viertel, einem sicheren Park. Sicher für alle, nur nicht für Konrad Hierl. Er war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort, ein Zufallsopfer. Der Mörder wollte aus Wut ,,irgendein Menschenleben auslöschen'', wie ihm die Richter vorwarfen. Zuvor hatte er seine Freundin verprügelt, deren Vater warf ihn aus dem Haus.

In diesem Frühjahr - die Untersuchungshaft angerechnet - sollte B. eigentlich freikommen. Doch hat das aggressive Verhalten des Häftlings B. den Münchner Staatsanwälten wenig Anlass zu der Hoffnung gegeben, er könne die Justizvollzugsanstalt als geläuterter Mann verlassen - weshalb sie die nachträgliche Sicherungsverwahrung beantragt haben. Der "Westparkmörder" soll bleiben, wo er kein weiteres Unheil anrichten kann: hinter Gittern.

Aber die Sicherungsverwahrung ist in die Kritik gekommen, zum Leidwesen ihrer Befürworter. Wenn der neueste Entwurf des Bundesjustizministeriums bereits Gesetz wäre: B. wäre ein freier Mann. Das von Reformeifer geprägte Papier sieht die nachträgliche Sicherungsverwahrung nämlich nicht mehr vor. Und auch vor dem Europäischen Menschenrechts-Gerichtshof (EMGR) sind neue Fälle anhängig, die dazu führen könnten, dass die Richter dort die nachträgliche Sicherungsverwahrung überhaupt für unzulässig erklären.

Die Sicherungsverwahrung gibt der Justiz die Möglichkeit, einen Gefangenen nach Ablauf seiner Strafe hinter Gittern zu behalten - wenn zu befürchten ist, dass er weitere Straftaten begehen, neue Opfer suchen, sich an Zeugen rächen wird. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung erlaubt es seit einigen Jahren sogar, den Gefangenen selbst dann dauerhaft hinter Gittern zu "verwahren", wenn dies im Urteil für seine Tat gar nicht vorgesehen war.

Der Häftling in Sicherungsverwahrung wird also nicht für das bestraft, was er getan hat. Er wird bestraft für das, was er noch tun könnte. Laut Gesetz handelt es sich nicht einmal um eine Strafe. Die Sicherungsverwahrung ist eine Maßregel zur Besserung und Sicherung. Für die Strafjuristen liegt zwischen Strafe und Maßregel eine ganze Welt von Paragrafen, Definitionen, Überzeugungen. Für den Häftling liegt dazwischen fast nichts. Vielleicht darf er seine Zelle wohnlicher einrichten oder sich ein paar Wellensittiche halten. Aber es sind dieselben Mauern, die gleichen Gitter, dieselben Tage voller Monotonie. Was den Verwahrten von den Strafgefangenen unterscheidet, ist die Ungewissheit.

Ungewiss war der Entlassungstermin eines Verwahrten in Süddeutschland, der im Gefängnis einen guten Freund gefunden hatte, einen Lebenslänglichen. Der Verwahrte war ein Schläger, umgebracht hatte er niemanden. Der Häftling saß wegen Mordes ein. Aber er wusste, nach 15 Jahren würde er bei guter Führung frei sein. Er verbüßte seine Strafe und trat hinaus in die Freiheit. Der Lebenslängliche ging. Der Verwahrte blieb.

Der Häftling wird für das bestraft, was er noch tun könnte

Die Sicherungsverwahrung ist die Ultima ratio des deutschen Strafrechts. Kaum eine Maßnahme ist so umstritten. Weil es immer einen Bodensatz von gefährlichen und schwer bis gar nicht therapierbaren Tätern geben wird, prallen das Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft und die Freiheitsrechte des Einzelnen wohl nirgendwo sonst hart aufeinander. Den einen geht die Sicherungsverwahrung viel zu weit, den anderen nicht weit genug. Und die Mitte zu finden, ist kaum möglich.

Die Sicherungsverwahrung ist ein Schrecknis, aber ein notwendiges. Sie schützt vor Menschen, an denen aller guter Wille von Helfern, Psychiatern, Therapeuten einfach abperlt. Sie erinnert in ihrem Bemühen, möglichst alle Risiken auszuschließen, aber auch an den französischen Philosophen Michel Foucault. Ihm zufolge habe das Gefängnis die Marterstrafen barbarischer Zeiten ersetzt, sei aber zum Synonym disziplinarischer Kontrolle in der Moderne geworden. Den Richtern unterstellte er "ein rasendes Verlangen nach dem Messen, Schätzen, Diagnostizieren, Unterscheiden des Normalen und Abnormalen". So entstehe die Illusion, völlige Kontrolle über "abnormale" Gruppierungen wie Straftäter ausüben zu können. Aber obwohl - oder gerade weil - es diese Kontrolle niemals geben kann, ist das Pendel in den vergangenen Jahren immer mehr zugunsten der Sicherheit geschwungen. Bis jetzt. Die Sicherungsverwahrung steht auf dem Prüfstand - oder sogar vor dem Kollaps.

Dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geht sie nämlich inzwischen zu weit. Er hat das deutsche System der Sicherungsverwahrung bereits ein erstes Mal aufgebrochen, und zwar im Falle des Klägers D. Der war wegen versuchten Mordes und Raubs 1986 zu fünf Jahren Haft verurteilt worden sowie zu der damals möglichen Höchstdauer von zehn Jahren Sicherungsverwahrung. 2001 wäre er also freigekommen. Inzwischen aber, 1998, hatte der Gesetzgeber die Höchstgrenze von zehn Jahren einfach gestrichen. D. sollte von nun an so lange bleiben, wie es Psychiater, Gutachter und Anstaltsdirektoren für richtig halten, zur Not für immer. Etwa 70bis 100Männern in Sicherungsverwahrung ging es wie D. Statt der nahen Freiheit blieb das Gefängnis, auf kaum absehbare Zeit.

Sie alle könnten jetzt freikommen, D. ist es schon. Die europäischen Richter haben nämlich befunden, dass sich die Maßregel so wenig von der Strafe unterscheide, dass sie in der Praxis eine sei. Das Urteil hat eine Schleuse geöffnet - allein in Bayern, der härtesten Bastion zugunsten des Wegsperrens, für 19 Männer. Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung ist einer von ihnen wegen schwerer Brandstiftung noch in Sicherungsverwahrung. Drei sind es wegen Gewaltdelikten, 15 wegen wiederholter und besonders brutaler Vergewaltigungen, fünf dieser 15 hatten sich immer wieder an kleinen Kindern vergangen. Und sie alle saßen ja noch ein, weil niemand garantieren mochte, dass sie es nicht wieder tun werden. Und wenn sie gehen, dann gehen sie noch dazu ohne jede Vorbereitung auf diese unverhoffte Freiheit.

Gewiss, die meisten sind schon weit über 50; und viele Kriminologen gehen davon aus, dass die Rückfallquote nicht sehr hoch sein wird. Aber was heißt das schon - nicht sehr hoch? "Wenn nur jeder Zehnte wieder eine Frau vergewaltigt oder ein Kind missbraucht, ist das eine Katastrophe", sagt der Strafrechtler Heinz Schöch, einer der Experten für Sicherungsverwahrung. Es wäre eine Katastrophe für die Opfer, für die Justiz, die Gesellschaft, die so etwas hinnimmt. Es könnte ein Sieg der Freiheitsrechte sein - zu so einem hohen Preis erkauft, dass er von der Niederlage nicht mehr zu unterscheiden ist. Diesen Preis zahlt nicht "die Gesellschaft". Ihn würden die Opfer zahlen und sie allein.

Welche Sprengkraft in solchen Fällen liegt, zeigte sich im nordrhein-westfälischen Heinsberg. Dorthin war ein mehrfach vorbestrafter Sexualverbrecher gezogen, nachdem der Bundesgerichtshof in seinem Fall die nachträgliche Sicherungsverwahrung abgelehnt hatte. Der Mann war nun frei und stand dennoch am Pranger wie ein mittelalterlicher Delinquent. Vor seinem Haus demonstrierten wütende Bewohner, es kam zu hysterischen Protestaufzügen und Großeinsätzen der Polizei, die ihn vor den Bürgern und die Bürger vor ihm zu schützen hat. Der Staat wird alle 70 oder mehr Freigelassene mit enormem Aufwand überwachen müssen und doch nie die Sicherheit fester Anstaltsmauern garantieren können.

Noch dramatischer liegt die Sache bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Der Freistaat Bayern hat diese vergleichsweise eifrig angewandt, selbst hier aber waren es über die Jahre nur wenige Fälle. Aber eben: Was für Fälle. Da ist der Vater, der sein eigenes Kind Hunderte Male vergewaltigte, sadistisch folterte und bei dem sich erst in der Haft eine psychische Erkrankung herausstellte. Oder ein Kinderschänder, der im Gefängnis immer schlimmere Missbrauchsphantasien entwickelte. Oder der Gefangene, der seinen ersten Freigang dazu nutzte, sein früheres Vergewaltigungsopfer zu bedrohen und zu bedrängen. Alles "neue Tatsachen" im Sinne des Gesetzes. Und die Bayern sind davon überzeugt, dass es nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht möglich wäre, solche Kandidaten im Gefängnis zu behalten.

Man mag, nicht aus den schlechtesten Gründen, den Menschenrechts-Gerichtshof und das Reformpapier der Bundesregierung einer gewissen Weltfremdheit zeihen. Aber so einfach ist es nicht. Der Gesetzgeber ist auch in eine Falle gelaufen, die er sich selbst gestellt hat. Viele Male haben die Bundesregierungen, seit Kanzler Gerhard Schröder wissen ließ, gefährliche Sexualverbrecher gehörten "weggesperrt - und zwar für immer", die Sicherungsverwahrung verschärft. Doch der Hunger der Öffentlichkeit nach noch härterem Durchgreifen, das fordernde Heulen des Boulevards, "endlich etwas zu tun", ist dennoch immer größer geworden. Kein Gesetz, und sei es noch so scharf, wird diesen Hunger stillen, diese irrationalen Ängste lindern können. Es hat an Warnungen nicht gefehlt, dass manche hastig umgesetzte Verschärfung am Europäischen Menschenrechtsgerichtshof zerschellen würde.

Es gäbe eine Lösung: Therapie, aber die ist dem Staat zu teuer

Das wäre vermeidbar gewesen, hätte die Sicherungsverwahrung das Verwahren nicht stets vor das Therapieren gesetzt. 1969, in der Aufbruchszeit der Reformjustiz, sollten für den Maßregelvollzug "sozialtherapeutische Anstalten" geschaffen werden. Das Vorhaben wurde ie verwirklicht. Es war Bund und Ländern zu teuer und ist es bis heute. So blieb das Verwahren, das doch juristisch keine Strafe sein durfte, sich aber genau so anfühlte und, anders als die Strafe, potentiell unbegrenzt ist.

Diese Trennung zwischen Strafe hier und Maßregelvollzug dort hat den europäischen Richtern nicht eingeleuchtet. Gefängnis bleibt Gefängnis, argumentieren sie. Aus ihrer Sicht wird ein Häftling einfach doppelt bestraft. Zu den Argumenten eines Vertreters der Bundesrepublik vor dem Menschenrechts-Gerichtshof gehörte, der Kläger D. dürfe in Sicherungsverwahrung doch immerhin täglich duschen, also öfter als Strafgefangene. Derlei hat die Kammer nicht anderen Sinnes werden lassen.

Gewiss, es gibt Auswege, wie sie etwa Bayerns Justizministerin Beate Merk (CSU) weisen will. Die Länder könnten eigene geschlossene Anstalten für Sicherungsverwahrte schaffen, getrennt vom Gefängnis und auf die speziellen Bedürfnisse und Rechte dieser Menschen zugeschnitten. Diese Lösung wäre humaner, effizienter, würde hoffentlich den hohen europäischen Standards genügen - nur hat sie leider einen Nachteil: Sie wäre teuer, sehr sogar. Und wer sie trotzdem wagen würde, dürfte sehr bald knallige Schlagzeilen lesen: "Neuer Irrsinn - Luxusknast für Sextäter!"

Es ist eine Herausforderung für Gesellschaft und Justiz. Sie müssen Härte mit Humanität verbinden. Es ist nicht unmöglich, aber in der Praxis sehr schwer. Ein Staatsanwalt sagt: "Sollen wir Helgoland räumen und sie alle dorthin bringen? Aber selbst dann müssten wir den Strand einzäunen, damit keiner davonschwimmt. Und was sagt der Menschenrechts-Gerichtshof dann zu dem Zaun?"

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