Sicherheit in USA nach Bombenanschlag:Getroffen am wundesten Punkt

Teilnehmer am Boston-Marathon Anschlag, Bomben, USA, US-Präsident Barack Obama

Die Teilnehmer am Boston-Marathon können ihr Entsetzen kaum in Worte fassen: Explosionen erschütterten am Montag die Neuengland-Metropole.

(Foto: AFP)

Elfeinhalb Jahre nach 9/11 sterben wieder Amerikaner bei einem Anschlag in einer US-Metropole. Die Bostoner Sprengsätze treffen die Psyche der Supermacht und zerstören ein Gefühl der Sicherheit, das sich das Land mühsam aufgebaut hatte. Dass die Täter den Boston-Marathon als Ort für ihre Gräueltat wählten, zeigt ein schockierendes Gespür für Symbolik.

Von Matthias Kolb

Scot Lehigh fasst jenes Gefühl in Worte, das viele Amerikaner in den Stunden nach dem Anschlag auf den Boston-Marathon verspüren. "Es passierte in einem Moment, in dem wir schon fast aufgehört hatten, so etwas für möglich zu halten", schreibt der Kolumnist des Boston Globe.

Das Land habe begonnen, sich wieder sicher zu fühlen und langsam geglaubt, dass Terroranschläge "ein Relikt aus jener Vergangenheit" seien, in der die USA lediglich schlecht auf solche Anschläge vorbereitet gewesen seien.

Doch all die Verschärfungen der Sicherheitsbestimmungen seit den Flugzeug-Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001 haben die beiden Bomben in Boston nicht verhindert: Mindestens drei Menschen sind tot, mehr als 100 verletzt worden. Ein weiteres Opfer: Das Sicherheitsgefühl der Supermacht Amerika.

In der Hauptstadt Washington, gut 700 Kilometer vom Tatort entfernt, kommt der Terrorismus-Experte Bruce Hoffman zu einer ähnlichen Einschätzung wie der Bostoner Scot Lehigh. "Wir hatten geglaubt, diese Art von Bedrohung hinter uns gelassen zu haben", sagt der Professor der Georgetown University der BBC. Und Hoffman vermutet, dass die gestrigen Explosionen noch lange nachwirken werden: "Wenn Sie töten wollen, um Aufmerksamkeit zu bekommen, dann gehen Sie zum Boston-Marathon."

Die Menschen in Boston lieben ihren Marathon

Egal ob es das Terror-Netzwerk al-Qaida, eine bisher unbekannte Gruppe aus "homegrown terrorists" oder Rechtsextreme waren: Wer den Anschlag ausgeführt hat, der zeigt ein schockierendes Gespür für Symbolik. Seit 1897 findet der Boston-Marathon statt. Es ist nicht nur ein wichtiger Tag für den Leistungssport, sondern auch ein Volksfest mit Hunderttausenden Zuschauern und ein "Tag des Bürgerstolzes", wie es die Washington Post formuliert.

Die Bostonians lieben ihre Stadt und das alljährliche Spektakel - im Internet sind nun viele bewegende Blogposts wie jener von Jillian McLaughlin zu lesen, die bereits als Siebenjährige davon träumte, die 42 Kilometer zu laufen und vom Publikum beklatscht zu werden. Doch anstelle von Jubel, Stolz und Erleichterung herrscht nun Trauer und Fassungslosigkeit.

Es sind jene vergifteten Gefühle der Angst, des Misstrauens und der allgegenwärtigen Bedrohung, die Terroristen in einer Gesellschaft verbreiten wollen - und diese Gefühle sind wieder zurück in der Mitte Amerikas.

Wer in den USA lebt oder regelmäßig dorthin reist, hat sich längst daran gewöhnt, am Flughafen seine Schuhe auszuziehen, vor den Kontrollen hastig seine Wasserflasche zu leeren und sich vom Körperscanner durchleuchten zu lassen. Die kritischen, oft in harschem Ton gerufenen Fragen der Grenzbeamten wirken zwar unangemessen, aber sie vermittelten in den vergangenen Jahren ebenso ein Gefühl der Sicherheit wie die Tatsache, dass alle Anschlagsversuche - etwa 2009 durch den "Unterhosenbomber" oder 2010 auf den New Yorker Times Square - auf amerikanischem Boden scheiterten beziehungsweise rechtzeitig aufgedeckt wurden. Zuletzt wollte die Transportsicherheitsbehörde TSA es den Passagieren sogar wieder erlauben, Taschenmesser mit an Bord von Flugzeugen zu nehmen - wie vor 9/11.

Dem Schock folgt der Trotz

Obwohl bei Großereignissen viele Straßen abgesperrt werden und strengste Vorkehrungen herrschen, war zum Beispiel die Stimmung bei der Amtseinführung von US-Präsident Barack Obama im Januar gelöst - und wohl nur wenige fürchteten einen Anschlag. Ob die Senatoren und Abgeordneten im Kongress und Obama nun zu schärferen Auflagen drängen werden, wird von den Ermittlungsergebnissen abhängen.

Mehrere Medien weisen darauf hin, wie wichtig Boston für Amerikas Geschichte ist: In der Handelsstadt an der Ostküste nahm 1773 mit der Boston Tea Party der Aufstand gegen die britische Kolonialbesatzung seinen Anfang, der schließlich zur Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika führte. Kann es Zufall sein, dass der aktuelle Anschlag am Patriots' Day stattfand, der an den Unabhängigkeitskrieg erinnert?

Die Nachrichtenagentur Reuters weist unter Berufung auf Ermittler darauf hin, dass der 15. April zugleich Tax Day ist: An diesem Tag läuft die Frist für die Abgabe der Steuererklärung ab - dies ist stets ein sensibles Thema für rechtsextreme Gruppen, die in der Regierung in Washington eine Bedrohung sehen. In dieser Woche - am 19. April - nähern sich zudem zwei Jahrestage mit symbolischer Bedeutung: Das gewaltsame Ende der Waco-Belagerung 1993 in Texas und der Anschlag in Oklahoma City 1995, bei dem knapp 170 Menschen ums Leben kamen.

"Wir werden uns nicht in Schockstarre versetzen lassen"

Laut Reuters diskutieren die Behörden als weitere Option eine direkte oder indirekte Verbindung zu islamistischen Extremisten. Hierfür spräche die Vorgehensweise, sagten hochrangige Ermittler der Agentur. Die Zündung von zwei Sprengsätzen kurz hintereinander bei einem Großereignis sei die Art von Angriff, die zum Beispiel vom englischsprachigen Islamisten-Magazin Inspire propagiert werde. Inspire wird im Internet von der Gruppe al-Qaida im Jemen verbreitet.

In all dem Schock über die Bostoner Bomben und in der Trauer um die Opfer und deren Familien ist aber auch eine andere, uramerikanische Eigenschaft zu sehen: der unbedingte Wille, sich nicht unterkriegen zu lassen. Die New York Times beendet ihren Kommentar mit den Sätzen: "Die einfache Freude des 42-Kilometer-Laufs wurde am Montag erschüttert. Aber der Marathon wird kommendes Jahr wieder stattfinden, egal wie viele Sicherheitsvorkehrungen nötig sind - und die Zuschauer sollten doppelt so laut schreien. Kein Terrorakt ist stark genug, um eine Tradition zu zerstören, die zu unserer Geschichte gehört".

Und auch Scot Lehigh, der Kolumnist des Boston Globe, ruft seinen Lesern Mut zu: "Wir werden uns nicht von der Angst in Schockstarre versetzen lassen. Wir werden nicht in Deckung gehen. Wir werden uns nicht verstecken. Das ist immer noch Boston."

Im Zuge der Berichterstattung über den Anschlag in Boston verzichtet Süddeutsche.de bewusst auf die Veröffentlichung von Fotostrecken und Videos mit blutigen Bildern der Opfer. Uns ist bewusst, dass andere News-Seiten, auf die wir - nach sorgfältiger Prüfung - in unseren Texten verlinken, derartige Fotos möglicherweise zeigen. Wir glauben jedoch, dass in diesen Fällen der Informationsgehalt der verlinkten Artikel so hoch ist, dass Verweise dennoch gerechtfertigt sind.

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