Shakespeare:Wen ihr wollt

Vor 400 Jahren starb der Mann, der als britischer Dichter begann und zum Weltautor wurde. Er steht bis heute für eine Kultur, in der sich alle wiederfinden können.

Von Lothar Müller

Den Welttag des Buches hat die Unesco auf den 23. April gelegt; so sind William Shakespeare und Miguel de Cervantes seine Schutzherren. Beide sind am 23. April 1616 gestorben - wenn auch nicht am selben Tag, denn während im katholischen Spanien bereits der gregorianische Kalender galt, hielt England noch am julianischen Kalender fest. Reformen, die vom Papst ausgingen, hatten es nicht leicht im nachreformatorischen Europa. Anfang Mai 1606 waren in London die katholischen Verschwörer gegen König James I. hingerichtet worden, manche Zuschauer des grausamen Spektakels werden kurz zuvor oder danach Shakespeares "Globe"-Theater besucht haben.

Auch Cervantes hat zahlreiche Theaterstücke geschrieben. Aber im Rückblick ist er vor allem die Portalfigur des modernen europäischen Romans: Durch seinen "Don Quijote", dessen englische Übersetzung 1612, noch zu Lebzeiten Shakespeares erschien, und durch seine Novellen erscheint er als Mann des Buches. Das ist bei Shakespeare anders. Bei ihm ist das Zentrum des Lebens wie des Werks das Theater, die Bühne, die Schauspielerei - alles, was er als Autor war, ging aus diesem heißen Kern hervor. Er hatte in der New Grammar School in Stratford-upon-Avon eine solide Bildung erworben, las seinen geliebten Ovid im Original (und in Übersetzung), war ein weitläufiger Leser, aber er holte die Bücher aus der Welt der Lektüre heraus, machte sie zum Theaterstoff, zerrte sie in seine Welt, die Bühne.

Seinen Hamlet machte Shakespeare zu einem Leser und Büchermenschen, er ließ ihn in Wittenberg studieren, dort, wo die Energien der Reformation mit der ersten großen Medienrevolution der Frühen Neuzeit in Europa fusionierten, mit dem Buchdruck. Vor sein Publikum aber trat Hamlet in London, im "Globe Theatre", und nicht jeder in diesem Publikum musste lesen können, um ihm zu begegnen.

Denn auch hier erlebte ein neues Medium seinen rasanten Aufstieg: das moderne Theater, von Schauspielern betrieben, auf die Unterhaltungsbedürfnisse des Großstadtpublikums berechnet, mit Gastspielen bei Hof, aber fester Spielstätte in der City, ein, wenn es gut lief, ökonomisch lukratives Geschäft, an dem die wichtigsten Schauspieler als Anteilseigner beteiligt waren. Zu ihnen gehörte Shakespeare, der Stückeschreiber, Schauspieler und Impresario in Personalunion war und als wohlhabender Mann starb. Schon zu Lebzeiten gab es seine Stücke auch im Druck, aber nur im kleineren Quarto-Format, zum kanonischen Autor wurde er erst Jahre nach seinem Tod, mit den Folio-Ausgaben, deren erste 1623 erschien.

Folio - das hieß großes Buchformat, zweispaltiger Druck, das Format der King-James-Bibel, philologischer Anspruch auf Texttreue eingeschlossen. Selbst in dieser Aufmachung fand William Shakespeare in der Bibliothek der Universität Oxford zunächst nur widerstrebend Aufnahme, man hielt in der Gelehrtenwelt die Theatertexte für Leichtgewichte und wollte sich durch das Folio-Format nicht täuschen lassen.

Den wachsenden Nachruhm Shakespeares, seine Entwicklung zum Weltautor konnte die Skepsis der Gelehrten jedoch nicht aufhalten. Sie verkannte den heißen Kern, aus dem dieser Autor hervorgegangen war - die Fusion von Weltneugier, Buchwissen und den intellektuellen und affektiven Energien, die im neuen Medium "Globe Theatre" zirkulierten, wo im nicht überdachten Innenraum die "Groundlings" standen, die nur einen Penny gezahlt hatten, und in den Logen die Aristokraten saßen, dazwischen das mittlere und niedere Bürgertum. Puritaner kamen eher nicht, die waren sehr misstrauisch gegen das Leben auf der Bühne und drumherum und machten, als sie an der Regierung waren, 1642 dem "Globe" und allen Vergnügungsstätten den Garaus.

Shakespeare-Forscher lassen ihre Studenten heute nach Verbindungslinien zwischen der Fernsehserie "Breaking Bad" und dem Königsdrama "Richard III." suchen, Heere von Dechiffriersyndikaten sind den Tricks auf der Spur, mit denen Shakespeare über seinen Gewährsmann Ovid die griechische Mythologie auf die Bühne holte, über historische Quellen die römische Geschichte. Naturgenie war er im Deutschland des Sturm und Drang, jetzt ist er der Trickser, der die Haupt- und Staatsaktionen mit aktuellen politischen Anspielungen würzt und für das Parterre Taschendiebe erfindet, die denen im Publikum nachgebildet sind.

Wenn es im Shakespeare-Bild des frühen 21. Jahrhunderts ein Zentralmotiv gibt, dann dieses: Er ist die große Hoffnungsfigur für alle Visionen einer "inklusiven" Kultur, die Gebildete und Ungebildete, Underdogs und Eliten, Augenmenschen und Büchermenschen, Leser, Kinogänger und TV-Junkies zusammenschließt. Diese Hoffnung auf Shakespeare als Modell inklusiver Kultur hat zwei Seiten: Auf der einen ist er der Medienprofi, Gewährsmann für die Quadratur des Kreises gewissermaßen - für die Etablierung einer Kulturindustrie nämlich, die populär und "sophisticated" zugleich ist, allen Trash, alle Derbheiten und Zoten in sich aufnimmt und zugleich in den höchsten Tönen subtiler Poesie schwelgt.

Auf der anderen Seite ist Shakespeare der erste große Weltkünstler im Wortsinn: Repräsentant der Epoche, in der alle späteren Aufschwünge der Globalisierung wurzeln, die Gründungsfigur eines Theaters, in dem die Bretter die ganze Welt bedeuten, auch im geografischen Sinn. Ein Empire war das England Shakespeares noch nicht, aber eine Handelsnation, in der Weltwissen zusammenströmte. "Globe" - Erdkugel - hieß Shakespeares Theater nicht von ungefähr. In "Was ihr wollt" spielt Shakespeare auf die Mercator-Projektion an. Seine imaginäre Geografie verknüpft das England der Historien und Königsdramen mit Venedig, Rom und Troja, die mediterrane Welt der Antike mit den neuen atlantischen Welten, im "Sturm", einem seiner letzten Dramen, überlagert sich beides. Es zeigt auch das immer noch nicht gelöste Rätsel Shakespeares: Wie er es schaffte, Weltdarstellung und Menschenerforschung mit der höchsten Form der Zauberei zu verbinden - der Sprachmagie.

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