Sexualisierte Gewalt nach Kriegsende 1945:"Viele Frauen schwiegen aus Scham oder Angst"

Non-Fraternisation

Amerikanische GIs und deutsche Frauen.

(Foto: Getty Images)

Auch westalliierte Soldaten vergewaltigten nach Kriegsende 1945 deutsche Frauen. Die Historikerin Miriam Gebhardt schildert, warum die Verbrechen lange ein Tabu waren - und wie drakonisch Täter bestraft wurden.

Interview von Oliver Das Gupta

Miriam Gebhardt, Jahrgang 1962, ist Journalistin und Historikerin. Sie lehrt als außerplanmäßige Professorin an der Universität Konstanz. Anfang März erschien ihr Buch "Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkrieges" (DVA, München 2015). Im Interview erläutert Gebhardt, wie sie die Übergriffe alliierter Soldaten mit historischen Aufzeichnungen dokumentiert hat.

SZ: Am Ende des Zweiten Weltkrieges kam es zu zahlreichen Vergewaltigungen durch alliierte Soldaten. Wie viele deutsche Frauen erlitten damals sexuelle Gewalt?

Miriam Gebhardt: Bislang hieß es, dass zwischen einer und zwei Millionen Frauen und Mädchen von Rotarmisten vergewaltigt worden sind. Meines Erachtens waren es weniger Fälle. Ich gehe von etwa 860 000 betroffenen Frauen und Mädchen aus. Das ist eine Gesamtzahl, also inklusive der Opfer westalliierter Soldaten. 190 000 Vergewaltigungen könnten von US-Soldaten verübt worden sein.

Wie kommen Sie auf diese Zahlen?

Man weiß in etwa, wie viele Besatzungskinder entstanden sind: also Kinder deutscher Mütter, die alliierte Soldaten als Väter haben. Vier bis fünf Prozent dieser Kinder wurden durch Vergewaltigungen gezeugt. Statistisch gesehen entsteht aus jeder 100. Vergewaltigung ein Kind. Meine Zahlen basieren auf vorsichtigen Schätzungen, sie sind nicht in Stein gemeißelt.

Gibt es denn keine belastbaren Belege, etwa durch Krankenhäuser?

Die Frauen sind damals eben gerade nicht in die Krankenhäuser oder zu Ärzten gegangen. Die Akten, die es dazu gibt, meine ich gesehen zu haben. Sie handeln von den Folgen der Vergewaltigungen wie Schwangerschaftsabbrüchen und Entschädigungsforderungen.

Im kollektiven Gedächtnis sind die Westalliierten 1945 als Befreier gekommen, nicht auch als potenzielle Sexualtäter. Wo haben Sie entsprechende Belege für Übergriffe gefunden?

Es gibt zum Beispiel Einmarschberichte der katholischen Pfarrer der Erzdiözese München-Freising. Diese Berichte belegen drastisch, dass es 1945 fast in jedem Dorf zu Vergewaltigungen kam.

Wie reagierten die Opfer?

Viele Frauen schwiegen aus Scham oder Angst. Auch, weil sie sich davor fürchteten, der Fraternisierung beschuldigt zu werden: Dass man ihnen unterstellt, sich freiwillig mit dem fremden Soldaten eingelassen zu haben. Auf der einen Seite gab es ein Verbot der Alliierten für sexuelle Kontakte zwischen Soldaten und deutschen Frauen. Auf der anderen Seite spürten die Opfer den Druck der deutschen Gesellschaft, in der man "Amiflittchen" schmähte. Wobei die oberbayerischen Pfarrer in ihren Berichten durchaus unterschieden: Ein Vergewaltigungsopfer aus intakter Familie war für sie ein Opfer. Bei betroffenen Frauen, die vertrieben oder alleinstehend waren, sahen die Geistlichen eine Mitschuld, nach dem Motto: Die hat es ja heraufbeschworen.

Das ist frappierend.

Es wirft ein düsteres Kapitel auf den Zustand der damaligen Gesellschaft. Die meisten hatten ja irgendwie im NS-Staat mitgemacht oder weggeschaut, als die Juden entrechtet und abgeholt wurden. Nach dem Krieg haben sich die Leute dann lieber nicht mit der eigenen Rolle im Nationalsozialismus beschäftigt. Eigene Schuldgefühle wurden umgeleitet auf diejenigen, die gestört haben und sich angeblich unsittlich verhielten. Das waren damals eben: Jugendliche, Verwahrloste, alleinstehende Frauen.

Bislang sind die sexuellen Übergriffe während des Zweiten Weltkriegs kaum aufgearbeitet worden. Warum war das Thema so lange tabu?

Der Fokus der Gesellschaft lag vor 70 Jahren darauf, möglichst schnell zu einem bürgerlichen Familienideal zurückzukehren. Demnach hatte der Mann Frau und Kinder zu beschützen - da passte die Erinnerung an die Übergriffe nicht. Gleichzeitig haben die Männer oft darüber geschwiegen, was sie im Krieg erlebt und mitunter auch getan hatten. Es war wie ein unausgesprochenes Stillhalteabkommen auf beiden Seiten.

Wann endete diese Phase?

In den fünfziger Jahren. Da wurden in Westdeutschland die Übergriffe sowjetischer Soldaten thematisiert.

Wie kam es zu dem Wandel?

Man kam so den Vorwürfen zuvor, die im Ausland wegen der deutschen Verbrechen erhoben werden konnten, vor allem wegen des Holocaust. Die Bundesregierung preschte deshalb vor und sammelte Material, das vor allem die Rote Armee belastete. Die Leiden der Opfer rückten in den Hintergrund. Im Mittelpunkt stand deren politische Instrumentalisierung. Und dann gab es nochmal eine kurze Phase in der eine Aufarbeitung möglich schien: während der zweiten Frauenbewegung. Susan Brownmiller ging 1978 in ihrem Buch "Against our will" auch auf die Vergewaltigungen deutscher Frauen nach dem Krieg durch Westalliierte ein.

Das Werk wurde auch in Deutschland intensiv rezipiert. Nahm die Frauenbewegung hierzulande das Thema dann auf?

Diesen Aspekt erstaunlicherweise nicht. Dabei hätten die Feministinnen damals ja nur mal ihre Mütter fragen müssen. Vielleicht wurde das Thema damals von der Gesellschaft auch aus Loyalität gegenüber dem Westen nicht aufgenommen. Die sexuelle Gewalt gegen deutsche Frauen war ideologisch ohnehin schon von der politischen Rechten besetzt.

Wann begann auch die Mitte der Gesellschaft in Deutschland darüber zu sprechen?

In den 90er Jahren nahm sich Helke Sander des Themas endlich an. Ihr Dokumentarfilm "BeFreier und Befreite" war eine Pioniertat, allerdings hatte er einen Schönheitsfehler: Wieder ging es nur um die Untaten sowjetischer Soldaten. So kommt es, dass wir Vergewaltigungen nach dem Krieg automatisch mit der Roten Armee verbinden. Da haben viele das Zerrbild vom Soldaten mit asiatischer Fratze vor Augen, der sich über eine blonde Berlinerin hermacht.

Der Stereotyp vom unzivilisierten, wilden Mann aus den Weiten Russlands, der Deutschland bedroht gab es allerdings auch schon im Ersten Weltkrieg.

Richtig, und befeuert wurde das Ganze noch von der Propaganda während der NS-Zeit. Joseph Goebbels hatte ja im Krieg den Deutschen die Übergriffe der Roten Armee angekündigt. Also war es nach dem Krieg auch leichter für die von Rotarmisten vergewaltigten Frauen, darüber zu sprechen.

Wie haben die alliierten Militärführungen auf die sexuellen Gewalttaten ihrer Soldaten reagiert?

Mit großer Härte. Wenn Fälle bekannt wurden, fielen die Strafen mitunter drakonisch aus. In einem Fall hat ein sowjetischer Offizier sogar einen seiner Soldaten totgetreten. Sexuelle Gewalt von Soldaten gegen Zivilistinnen und übrigens auch gegen Männer gab es natürlich nicht nur in Deutschland. Es passierte beim Vormarsch der Deutschen zu Beginn des Weltkrieges, auch beim Vordringen der Alliierten in Frankreich und Belgien. Sexuelle Gewalt als Waffe ist ein aktuelles Thema, wie uns die Kriege in Ex-Jugoslawien oder die Vergewaltigungen der Kämpfer der IS-Miliz zeigen.

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