Serie: Soziale Realität Balkan (1):Das Dorf ohne Frauen

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Früher arbeiteten die Männer vom Balkan in der Fremde, heute sind es ihre Frauen. Ihre Familien bleiben zurück und zahlen den Preis für den Traum vom Wohlstand im neuen Europa.

Maja Hrgovic

Junge Journalisten vom Balkan haben sich in diesem Jahr zum dritten Mal für das "Balkan Fellowship for Journalistic Excellence" beworben. Das Stipendium wird von der deutschen Robert Bosch Stiftung, der ERSTE Stiftung aus Wien und dem "Balkan Investigative Reporting Network" (BIRN) vergeben. So sind aufwendige Reportagen über die harte soziale Realität auf dem Balkan entstanden. sueddeutsche.de veröffentlicht drei Texte, die von einer Journalisten-Jury ausgewählt und mit Geldpreisen bedacht wurden.

Früher hielten einige Männer vom Balkan ihre Frauen finanziell an der kurzen Leine. Heute sind viele Frauen die Alleinverdiener. (Foto: Foto: Maja Hrgovic)

Maja Hrgovic wurde 1980 im kroatischen Split geboren. Sie arbeitet derzeit für die Kulturredaktion der kroatischen Zeitung Novi List.

Obwohl sie erst vor einer Woche ihren 29. Geburtstag gefeiert hat, sieht Alina eher aus wie 40. Sie hat widerspenstiges Haar, abgeknabberte Fingernägel und ihre Augen zucken ständig. Alina macht den Eindruck einer gejagten Frau.

"Er muss doch nur aufpassen, dass die Mädchen sauber sind und satt, und dass sie ihre Hausaufgaben machen. Aber das ist immer noch zu viel für ihn", schimpft sie. "Es ist eben leichter herumzuhuren, zu trinken und zu zocken. Mit meinem Geld." Wenn Alina über ihren Mann spricht, dann ignoriert sie die schöne Aussicht von der sonnigen Terrasse eines Cafés in Deruta, einer ruhigen italienischen Stadt nahe Perugia.

Als Alina ihre Heimatstadt Gaesti in Rumänien 2006 verließ, um in Italien als Haushaltshilfe für eine ältere Frau im Rollstuhl zu arbeiten, blieb ihr 37-jähriger Mann Cosmin zu Hause, um auf die Kinder aufzupassen. Aber vor vier Tagen ist er verschwunden, mit dem ganzen Geld der Familie. Das hat ihr die halbwüchsige Tochter gerade am Telefon gesagt. Alina zündet sich eine Zigarette an, wenn sie davon erzählt. Ihre Hände zittern.

Gegen jede Tradition

Es ist ein neues Phänomen: Frauen aus den Balkan-Ländern arbeiten im Westen, sie sind nun die Alleinverdiener ihrer Familien. Es ist eine Umkehr der traditionellen Muster, früher arbeiteten die Männer im Ausland und ihre Frauen blieben zu Hause. Die Veränderung ist eine große Belastung für viele Familien.

Die UN-Abteilung für Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten (UNDESA), die weltweit Migrationsbewegungen erfasst, hat festgestellt, dass es seit 1990 in neun Balkanstaaten mehr weibliche als männliche Emigranten gibt: in Albanien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Kroatien, Kosovo, Mazedonien, Montenegro, Rumänien und Serbien. UNDESA-Reports zeigen, dass Frauen weltweit 49,6 Prozent der Migranten ausmachen - und 54 Prozent auf dem Balkan. Am ausgeprägtesten ist dieses Phänomen in Mazedonien und Bulgarien, wo Frauen 59 Prozent der Migranten stellen.

Die Männer arbeiteten einst in den Kohleminen und Stahlwerken im Westens und schickten ihr hart verdientes Geld nach Hause. Wenn Frauen überhaupt ins Ausland reisten, dann um ihre Männer bei der Arbeitssuche zu begleiten, oder sie zogen später mit den Kindern nach. Doch der Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989 und die bewaffneten Konflikte im ehemaligen Jugoslawien haben in den neunziger Jahren die weibliche Arbeitsmigration ausgelöst. Zudem ist Fabrikarbeit neuen Arbeitsplätzen im Dienstleistungssektor gewichen, für die bevorzugt Frauen gesucht werden.

Viele dieser Arbeitsplätze sind schlecht bezahlt und sozial unattraktiv, deshalb gibt es in Westeuropa dafür auch nicht genügend Bewerberinnen. Die Frauen aus den Balkan-Staaten arbeiten vor allem als Putzhilfen, Bedienungen in Cafés und Restaurants, Zimmermädchen und Betreuerinnen für Kranke und Alte. Laut einer Studie von Open Society Romania aus dem Jahr 2007 arbeiten knapp 255.000 Rumäninnen in Italien. 88 Prozent von ihnen waren mindestens einmal als Haushaltshilfen beschäftigt, viele davon illegal.

Soziologen sagen, der neue Trend eröffne den Frauen zwar neue Perspektiven, sorge aber auch für zusätzliche Zwänge. Familien, in denen die Frauen nun die Alleinverdiener sind, müssten einen grundlegenden Wandel vollziehen. Dies stelle die traditionellen patriarchalischen Familienstrukturen auf dem Balkan vor unvorhergesehene Herausforderungen.

Interessant und kaum erforscht

"Migrantinnen als Ernährer sind für einen großen Teil der Familien auf dem Balkan schon die Realität", sagt der kroatische Soziologe Ivan Prolic. "Diese Entwicklung wird noch zunehmen, sie krempelt traditionelle Familien um und verändert die ländlichen Gemeinden drastisch." Prolic sagt, der Trend sei so neu, dass er nur wenig erforscht sei. "Soziologisch betrachtet ist das interessant und sollte definitiv mit mehr Aufmerksamkeit verfolgt werden."

Alina macht einen Job, den nicht viele Italiener annehmen würden - für einen Lohn, den Italiener als Beleidigung bezeichnen würden. Trotzdem schafft sie es, ihrer Familie jeden Monat 400 Euro zu schicken. Außer ihrem Gehalt hat Alina noch einen anderen Ansporn. Sie hofft, damit ihr Opfer wettmachen zu können: Die behinderte 77-Jährige, um die sie sich kümmert, hat versprochen, ihrer Helferin einmal das Haus vererben, in dem sie lebt. "Ich warte darauf, dass sie stirbt", gibt Alina unumwunden zu und raucht wieder eine Zigarette.

Frauen vom Balkan, die in Italien arbeiten, klagen über Rassismus. Plakate wie dieses in Rom sollen die fremdenfeindliche Stimmung verändern. (Foto: Foto: Maja Hrgovic)

Leben im Keller

Sie mag ihre Arbeitgeberin nicht besonders, sie hält sie für rassistisch. Alina erzählt von einem Artikel aus der Zeitung Corriere della Sera vom vergangenen Sommer. Er handelte von einer Italienerin, die verhaftet wurde, nachdem sie ihre rumänische Haushälterin ein Jahr lang missbraucht und praktisch versklavt hatte. Die Frau hatte der Rumänin außerdem damit gedroht, sie als illegale Einwanderin anzuzeigen und sie gezwungen, im Keller zu leben.

Immigranten wie Alina müssen seit der Wirtschaftskrise mit zunehmener gesellschaftlicher Verachtung fertig werden, wie eine Studie der in Rom ansässigen Nichtregierungsorganisation Caritas Migrant belegt.

Lückenbüßer

Immigrationsexperte Antonio Ricci meint, Italien sollte dankbar für seine mehr als 2,5 Millionen registrierten und schätzungsweise 700.000 illegalen Zuwanderer sein. In einer älter werdenden Gesellschaft mit niedriger Geburtenrate füllten privat angeworbene Hilfskräfte aus Osteuropa, die sich um Kranke und Alte kümmerten, die Lücken eines ineffizienten staatlichen Wohlfahrtssystems. Deshalb wurden auch Haushaltshilfen von den strengeren Regelungen gegen Einwanderung ausgenommen, die die italienische Regierung im vergangenen Jahr erlassen hat.

Trotzdem ist die öffentliche Geringschätzung und Feindseligkeit gegenüber fremd aussehenden Männern und Frauen, seien sie aus Rumänien, Albanien oder Marokko, deutlich. Zum Beispiel in der Art, wie viele Italiener das Wort "badante" aussprechen, das für ausländische Frauen benutzt wird, die als Alten-Betreuerinnen arbeiten. Alina hat die Nase voll davon. "Verkäufer im Supermarkt laufen mir immer hinterher, um zu sehen, ob ich etwas stehle, und manche Leute erwidern meinen Gruß auf der Straße nicht. Es ist erniedrigend", klagt sie. "Meine Freundin aus Bulgarien, auch eine badante, sagt, ich würde mich daran gewöhnen. Aber das werde ich nie."

Nedas Befreiungsschlag

Neda Plesa aus Boboljusci in Bosnien ist eine stimmgewaltige, geistreiche Frau Ende Dreißig. Weil sie fast immer lächelt, kann man sich kaum vorstellen, dass sie traurig ist. Dennoch sagt sie, sie habe an einer ernsten Depression gelitten, bevor sie im Ausland Arbeit gefunden habe. Wie ein paar hundert andere Frauen aus Bosniens Nordwesten hat Neda ein neues Berufsleben in Nordösterreich begonnen. Seit 2004 arbeitet sie auf einer Milchfarm bei Linz. "Mein Job ist ein Prozent Inspiration und 99 Prozent Transpiration", scherzt sie.

Wenn Neda Plesa Geld brauchte, musste sie ihrem Mann genau erklären, wofür. "Das nennt man ökonomische Gewalt und hat letztlich meine Selbstachtung zerstört." Dank ihres Jobs in Österreich ist sie einigermaßen wohlhabend, und nun auch geschieden.

Aber immer noch sieht sie ihre Arbeit als eine Flucht aus einem Leben, das sie mit einer Gefangenschaft vergleicht. "Mein Ex-Mann war der Meinung, eine Frau solle nicht arbeiten, und der Mann sollte die Familie versorgen, typisches bosnisches Macho-Gehabe."

Die Wanderung gen Westen hat manche Dörfer und kleinere Städte fast all ihrer Frauen im arbeitsfähigen Alter beraubt. Wer wissen will, wie eine Welt ohne Frauen aussehen würde, sollte Varshets besuchen, eine abgelegene Stadt in Bulgariens Bergen. Sie ist berühmt für ihre Mineralquellen - und nun auch dafür, dass ihre etwa 5000 Einwohner größtenteils arbeitslose Ehemänner und mutterlose Kinder sind. Die Frauen sind zum Arbeiten nach Italien und Spanien gegangen und schicken ihren Lohn nach Hause.

Sogar an Sonnentagen sieht man keine einzige Frau in der Bohr-Cvor Snackbar an der Hauptstraße. Sie ist voll mit Männern, die lachen und sich an einfachen Tischen mit rot-weiß karierten Tischtüchern unterhalten. Allen Vorurteilen gegen rein männliche Gemeinschaften zum Trotz wirkt Varshets friedlich, ordentlich und freundlich. Die Männer, die jeden Tag in der Bar herumhängen, unterstützen sich gegenseitig, während sie darauf warten, dass ihre Frauen auf Urlaub kommen.

Sehnsucht nach der Frau

Peter Dimov, 45, ein Bauarbeiter mit warmem Lächeln, hat seine Frau seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Er gibt zu, dass er geweint hat, als sein Sohn kürzlich fragte, welche Farbe die Augen seiner Mutter hätten, weil er sich nicht daran erinnern konnte.

Peter ist sogar bereit, vor den anderen Männern in der Kneipe über seine Einsamkeit und seine Sehnsüchte zu sprechen. Seine Freunde haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Die Männer aus Varshets haben Kochen gelernt und helfen ihren Töchtern durch die Pubertät. "Ich habe nie geschätzt, was meine Frau für die Kinder und im Haushalt getan hat, bis ich meinen Job verloren habe und sie zum Arbeiten nach Italien ging", gibt Peter zu. "Nun, da ich meine Jungen großziehe, merke ich, wie hart es ist, Hausfrau zu sein. Bauarbeit ist ein Zuckerschlecken im Vergleich dazu", sagt er, während andere zustimmend nicken.

Doch die Migrantinnen zahlen oft einen hohen Preis für den höheren Lebensstandard. Viele leiden an Depressionen, Stimmungsschwankungen und Verzweiflung und haben Schwierigkeiten, sich an ihre neue Situation anzupassen.

Wenn Kinder sich selbst töten

Das gilt auch für die Kinder. In Rumänien gibt es ein neues, entsetzliches Phänomen: Selbstmorde von Kindern, deren Mütter ins Ausland gegangen sind. Im Jahr 2008 hatten laut einer Studie von UNICEF und der Social Alternatives Association in Rumänien fast 350.000 rumänische Kinder mindestens einen Elternteil, der im Ausland arbeitete, 126.000 von ihnen standen sogar ganz ohne Eltern da.

In den Jahren 2006 und 2007 haben sich mindestens 19 Kinder umgebracht. Viele, das zeigen ihre Abschiedsbriefe, weil sie sich von den Eltern zurückgewiesen und verlassen fühlten. Einige dieser Selbstmorde sind im Landkreis Dambovita in Zentralrumänien passiert. Die Gegend ist berüchtigt für ihre elternlosen Kinder.

In Alinas Heimatstadt Gaesti sind die Nebenwirkungen der durch Migration auseinandergerissenen Familien an jeder Ecke sichtbar. Dort wohnen fast ausschließlich Kinder und Großeltern, die die Aufgaben der Eltern übernommen haben.

Wer das Dorf besucht, versteht, warum die Leute alles tun, um wegzukommen und nach einem besseren Leben in Italien, Spanien oder sonstwo suchen. Provisorische Häuser sind mit alten Teppichen und rostigen Kühlschrankteilen isoliert. Rudel magerer Hunde und Gruppen noch magerer Kinder streunen herum, spielen im Matsch und auf Haufen stinkenden Mülls in der Hauptstraße.

iPod statt Geborgenheit

Adrian ist neun Jahre alt und seine Schwester sieben. Sie lungern an einer verwaisten Bushaltestelle herum, spielen mit ihren Nintendos. Ihre Mutter ist vor zwei Jahren nach Spanien gegangen und nicht zurückgekommen. Sie hat nicht angerufen oder geschrieben, obwohl sie der Großmutter jeden Monat Geld schickt. Wenn man die Kinder fragt, was sie sich am meisten im Leben wünschen, antworten sie unisono: "iPod".

"Ich vermisse unsere Mama nicht und ich will nicht, dass sie zurückkommt", sagt Adrian und seine Augen fixieren dabei das Spielzeug in seiner Hand. "Oma sagt, dass sie uns endgültig verlassen und einen neuen Freund hat. Ich will ihn nicht treffen."

Laut der Rumänischen Behörde für Kinderschutz stehen Kinder wie Adrian vor einer prekären Zukunft. Ihr Lebensstandard und der Anschein eines normales Lebens sind nur sicher, so lange ihre Eltern Geld schicken und ihre Großeltern leben und gesund sind. Wenn das nicht mehr gilt, könnten sie in düsteren Waisenhäusern enden und vielleicht für Prostitution und Verbrechen angeheuert werden.

Nicht nur für die Frauen kann sich der Traum von einem neuen Leben in einen Albtraum verwandeln, auch für ihre Familien.

© sueddeutsche.de/Übersetzung aus dem Englischen/Bearbeitung: Christiane Schlötzer und Susanne Klaiber/sukl - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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