Serie "Deutscher Herbst":Kohls "schrecklichste Erfahrungen meines Lebens"

Bundestagswahl historisch

Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD, r) mit dem CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl im Mai 1976. Kohl löste Schmidt im Amt des Regierungschef 1982 ab.

(Foto: dpa)

Vor 40 Jahren: Im großen Krisenstab beherrscht Kanzler Schmidt die Agenda - und weiß Oppositionsführer Kohl an seiner Seite.

Von Robert Probst

Tag 31: Mittwoch, 5. Oktober. Straffe Ordnung in den Krisenstäben

In Stuttgart-Stammheim stellen die vier RAF-Terroristen Andreas Baader, Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin und Irmgard Möller einen Antrag, die Kontaktsperre aufzuheben - jeder einzeln, doch mit fast identischem Wortlaut.

Am Abend tritt in Bonn der Große Politische Beratungskreis zusammen. In einer später veröffentlichten Dokumentation der Regierung heißt es: "In einer grundsätzlichen Aussprache werden die weiteren Verhaltensmöglichkeiten gegenüber den Entführern erörtert. Dabei werden alle Risiken gegeneinander abgewogen. Über das konkrete Vorgehen gegenüber den Entführern besteht Einigkeit."

SZ-Serie "Deutscher Herbst"

Vor 40 Jahren stand die Bundesrepublik vor ihrer bislang größten Herausforderung. Die Rote Armee Fraktion (RAF), die im April 1977 Generalbundesanwalt Siegfried Buback und im Juli den Bankier Jürgen Ponto ermordet hatte, entführte den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer. Ziel war es, die RAF-Anführer und andere Kampfgenossen aus den Gefängnissen freizupressen. Die SZ dokumentiert die dramatischen Tage der Schleyer-Entführung vom 5. September bis zum 19. Oktober, für die sich der Begriff "Deutscher Herbst" eingeprägt hat. Hinzu kommen politische Einschätzungen von damals und heute sowie neue Erkenntnisse der Zeitgeschichte. Die bisher erschienenen Folgen im Überblick.

Bereits am zweiten Tag der Entführung von Hanns Martin Schleyer waren ohne Rechtsgrundlage und ohne formalen Beschluss zwei neue Gremien eingerichtet worden. Sie tagten auf "Einladung" von Kanzler Helmut Schmidt. Täglich mindestens einmal kommt die "Kleine Lage" (die Regierung vermeidet bewusst den Begriff Krisenstab) zusammen, bestehend aus dem Kanzler, Innenminister Werner Maihofer, Außenminister

Hans-Dietrich Genscher, Justizminister Hans-Jochen Vogel, mehreren Staatssekretären, BKA-Präsident Horst Herold und Generalbundesanwalt Kurt Rebmann. In kritischen Situationen tagt die Kleine Lage permanent.

Beim "Großen Politischen Beratungskreis", der ein-, zweimal die Woche tagt, kommen noch Bundespolitiker der CDU/CSU-Opposition und einige Landespolitiker hinzu. Nach außen wird der Eindruck erweckt, dass beide Gremien keine Entscheidungen fällten. Doch da alle Teilnehmer dieser Runden zur Geheimhaltung verpflichtet sind, erfahren nicht einmal die Abgeordneten etwas vom Inhalt der Beratungen. "Das bedeutet in der Konsequenz, dass eine angemessene parlamentarische Kontrolle gegenüber der Exekutive ausgeschlossen ist", urteilt der Politologe Wolfgang Kraushaar.

Die Sitzungen in den Gremien folgen einer straffen Tagesordnung: Lage der eigenen Kräfte, Justizlage, Medienlage, Kommunikation mit dem Gegner, Lage des Gegners, Diskussion, Entschlüsse und Aufträge. Die Politiker sitzen oft bis in die Nacht zusammen. "Schmidt beherrscht alles, er leitet die Sitzungen barsch und mit knappen Worten", schreibt der Autor Michael Schwelien: "Innenminister Maihofer trägt wenig zur Lösung bei, stimmt aus Unsicherheit stets Herold zu. Auch Genscher hält sich zurück, legt sich aber nie quer.

Hans-Jochen Vogel versteht immer auf Anhieb, worauf Schmidt hinaus will und übernimmt unermüdlich die schwierige Detailarbeit." Gelegentlich kommt es zu Spannungen, vor allem zwischen Schmidt und Maihofer. Der Innenminister sprach später vom "überfrachteten Selbstdarstellungsdrang" des Kanzlers, dieser hielt den FDP-Politiker für einen Zauderer.

Doch letztlich geht es täglich um weitreichende Entscheidungen. Helmut Kohl, damals Oppositionsführer, schreibt in seinen Memoiren: "Rational war ich davon überzeugt, dass meine Position und die des Krisenstabs richtig war, den Erpressern nicht nachzugeben. Aber hatten wir das Recht, um der Staatsräson willen ein Menschenleben zu opfern? Es war ein furchtbarer Zwiespalt. Die Tage und Stunden der Schleyer- Entführung gehörten zu den schrecklichsten Erfahrungen meines Lebens."

"Deutscher Herbst"

Quellen und Literatur zur SZ-Serie über den RAF-Terrorismus 1977. Zur Übersicht

Tag 32: Donnerstag, 6.Oktober. "Hexenjagd" auf Heinrich Böll

Das Magazin Stern veröffentlicht ein Gespräch mit Heinrich Böll. Der Schriftsteller ("Die verlorene Ehre der Katharina Blum") und Nobelpreisträger wird seit Jahren von den bürgerlichen Medien als geistiger Wegbereiter und Sympathisant des Terrorismus bezeichnet. Seit der Schleyer-Entführung wird er von Publikationen des Springer-Verlags quasi als Komplize der RAF massiv angegriffen.

Böll spricht davon, "mit welch unglaublicher Gemeinheit die Bild-Zeitung meine Familie in die Verfolgung miteinbezogen" habe. "Ich habe Grund, um meine Familie zu fürchten." Er selbst nennt sich einen kritischen Demokraten, die Strategie seiner Gegner erklärt er so: "Wenn man einen dieser freien Vögel wie mich abschießt, kann man auch die wenigen noch nicht Eingeschüchterten, junge Lehrer, junge Arbeiter, die zudem finanziell abhängig sind, erschrecken. Falle ich, kann man die anderen wie Fliegen totschlagen."

Hilfe erfährt Böll von seinem Kollegen Günter Grass, der von einer "Hexenjagd" spricht und sich wünscht, Böll würde vom Bundespräsidenten vor den Angriffen geschützt. Die Welt dagegen kommentiert: "Aber man hat bis heute keinen Widerruf gehört, kein Eingeständnis den jungen Menschen gegenüber, daß man sie falsch beraten habe. (. . .) Die Verstrickung geht zu tief. Es muß wohl noch mehr Blut fließen, ehe wenigstens die Wirksamkeit der geistigen Väter ein Ende hat; auf Einsicht wagt man nicht zu hoffen."

Im Bundestag warnt Kanzler Helmut Schmidt vor "Hysterie" bei der Terror-Bekämpfung - und verteidigt Böll.

Tag 33: Freitag, 7.Oktober. Regieren hinter Stacheldraht

In Bonn treten Kanzler Helmut Schmidt und einige Minister im Kleinen Krisenstab zweimal zu Beratungen zusammen. Seit dem ersten Tag der Entführung von Hanns Martin Schleyer gleicht das Regierungsviertel der Hauptstadt einem Heerlager. Panzerwagen des Bundesgrenzschutzes fahren durch die Straßen, Stacheldrahtzäune werden rund um die Ministerien gezogen, hinter Sandsäcken patrouillieren mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten, die Ministerien, das Kanzleramt und die Häuser wichtiger Politiker werden nachts angestrahlt, alle Personen, die sich den Ministerien nähern, werden streng kontrolliert. Öffentliche Auftritte von Spitzenpolitikern finden nur noch unter höchsten Sicherheitsmaßnahmen statt.

Das Magazin Quick titelt am 22. September: "Bonn - Stadt in Angst". In der Zeit ist von einem "Planquadrat in Verteidigungsstellung" die Rede: "Der Zwang, hinter Stacheldraht regieren zu müssen, behütet von Polizeihunden, wird mit Ingrimm nach Kräften verdrängt. Doch das ist nicht so einfach. Denn auch diese Sorge nistet sich häuslich ein: Die Art und Weise, wie der Staat sich aufrüste und präsentiere, könne in der Öffentlichkeit Animositäten wecken gegenüber den Gutgeschützten."

Doch allen Assoziationen vom Kriegszustand zum Trotz: Vor allem an den Wochenenden kommen Hunderte Neugierige und lassen sich vor den gepanzerten Fahrzeugen fotografieren.

Die Serie erschien in einer ersten Version 2007 - und wurde für die Neuveröffentlichung leicht überarbeitet und erweitert. Die Rechtschreibung in Zitaten entspricht der Schreibweise der damaligen Zeit.

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