Serie "Deutscher Herbst":Folgenreichste Panne der deutschen Kriminalgeschichte

Lesezeit: 2 min

Dieses Hochhaus bietet alles, was die Entführer brauchen: Anonymität und eine gute Infrastruktur. Obwohl die Polizisten das wussten, griffen sie nicht ein. (Foto: dpa)

Heute vor 40 Jahren: BKA-Chef Horst Herold glaubt, die Schleyer-Entführer steuern die RAF von einem Kölner Hochhaus aus. Doch die Beamten begehen einen Fehler.

Von Robert Probst

Tag 11: Donnerstag, 15. September. Das Fernschreiben 827 bleibt unbearbeitet

Bundeskanzler Helmut Schmidt gibt eine Regierungserklärung zur "unmittelbaren Notlage" ab und stellt klar: "Die Tat von Köln ist Mord. Die Täter sind Mörder. Ein Mord, bei dem behauptet wird, er diene einem politischen Zweck, bleibt nichtsdestoweniger Mord."

Die Regierung wolle in dem Konflikt keine "militärische Lösung", wie es die RAF nennt, sondern "das Recht bewahren und weiteres Blutvergießen vermeiden". Schmidt wendet sich direkt an die Entführer: "Beenden Sie Ihr irrsinniges Unternehmen. Wir werden uns von Ihrem Wahnsinn nicht anstecken lassen. (. . .) Die Massen stehen gegen Sie."

Seit elf Tagen wird Schleyer im "Volksgefängnis" der RAF gefangen gehalten. Das Versteck befindet sich in der dritten Etage eines Hochhauses Zum Renngraben 8 in Erftstadt-Liblar, südwestlich von Köln. Es liegt also in der Zone, in der es BKA-Chef Horst Herold vermutet hatte, und es entspricht den Kriterien, die er für die Rasterfahndung aufgestellt hatte.

Die Analyse des BKA geht so: Der RAF sei bekannt, dass die Polizei nach dem Attentat eine Ringalarmfahndung aufbauen wird mit Straßenkontrollen in einem Radius von 15 Kilometern um den Tatort. Die RAF muss daher das Versteck innerhalb des Fahndungsrings wählen.

Die Wohnung im Hochhaus in Erftstadt- Liblar entspricht sämtlichen von Herold entwickelten Fahndungsrastern: Das Hochhaus garantiert Anonymität. Die sonstigen Beschaffenheits und Anmietungskriterien hatte das BKA in einem "Fahndungsraster nach konspirativen Wohnungen" schon lange vor der Schleyer-Entführung beschrieben und an alle Polizeibeamten verteilt: Die Wohnungen mussten über Parkflächen und Tiefgaragen rasch erreichbar sein, über Telefon- und Fernsehanschlüsse und Lifte verfügen, über uneinsehbare Fenster und gute Verkehrsanbindung.

Weil die Wohnungen nur unter Falschnamen, mit Hilfe von gefälschten oder ihnen von Unterstützern überlassenen Papieren gemietet werden konnten, gab es für die Polizei Fahndungsraster, um solche Ausweise zu erkennen. Und weil die RAF keine Bankkonten unterhalten konnte, musste sie Kaution, Miete und Telefon bar bezahlen: Das war das erfolgreichste Rasterkriterium.

Das Fernschreiben 827

Nach der Entführung Schleyers werden alle Polizeikräfte angewiesen, nach diesem Raster alle in Betracht kommenden Hochhauswohnungen zu ermitteln. Bereits zwei Tage nach der Entführung wird ein Beamter in Erdtstadt Liblar auf die Anlage Am Renngraben 8 aufmerksam. Eine Anneliese Lottmann-Bücklers hatte die Wohnung Nr. 104 erst am 21. Juli 1977 angemietet und die Kaution in Höhe von 800 Mark sofort bezahlt. In ihrer Handtasche hatten sich, wie die Vermieterin berichtet, Bündel von Geldscheinen befunden.

Wären die Computer mit dem Namen gefüttert worden, sie hätten zahlreiche einschlägige Daten über die Frau und. Querverbindungen zur RAF bereitgehalten.

Der Polizist trägt seine Erkenntnisse in seine Liste ein, schickt sie am 7.9. an die Kreispolizeibehörde Bergheim, die sie per Sammelfernschreiben weiterleitet. Es ist der 9. September, das Fernschreiben trägt die Nummer 827. Schleyers Versteck war geortet, vier Tage nach seiner Entführung - und, wie man später wissen wird, fünf oder sechs Tage vor seiner Verschleppung nach Belgien.

Doch nichts passiert, das Schreiben bleibt unbearbeitet und gelangt nicht in die Hände der Sonderkommission. Noch mindestens zwei weitere Male schickt die lokale Polizei eine Liste mit verdächtigen Objekten weiter nach Köln.

Erst als am 8. November 1977 erneut ein Hinweis auf die verdächtigte Wohnung Am Renngraben 8 im Polizeipräsidium eingeht, reagieren die Behörden. Die Wohnung wird observiert, in der Hoffnung, die früheren Mieter würden vielleicht noch einmal zurückkehren. Doch es ist längst zu spät. Niemand kommt. Es ist die wohl folgenreichste Panne der deutschen Kriminalgeschichte. Wer dafür verantwortlich ist, konnte nie geklärt werden.

Die Serie erschien in einer ersten Version 2007 - und wurde für die Neuveröffentlichung leicht überarbeitet und erweitert. Die Rechtschreibung in Zitaten entspricht der Schreibweise der damaligen Zeit.

© SZ.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Serie "Deutscher Herbst"
:Bonn riskiert die Ermordung Schleyers

Heute vor 40 Jahren: Der Arbeitgeberpräsident weiß, wenn die Bundesregierung nicht mit den Entführern kooperiert, ist er tot.

Robert Probst

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: