Serie "Deutscher Herbst":Die RAF setzt auf den "Paten des internationalen Terrors"

60 Jahre Bundesrepublik Deutschland

Bonn lässt immer mehr Ultimaten vertreichen. Die Schleyer-Entführer werden langsam ungeduldig. Mehrere Briefe mit einem Foto darin verteilen sie in ganz Paris. Es landet auf der Titelseite von zahlreichen Zeitungen, wie der französischen Libération.

(Foto: dpa)

Vor 40 Jahren: Was tun, um die gefangenen RAF-Leute freizupressen? In einem Ausbildungscamp palästinensischer Guerillas treffen Schleyers Entführer eine folgenschwere Entscheidung.

Von Robert Probst

SZ-Serie "Deutscher Herbst"

Vor 40 Jahren stand die Bundesrepublik vor ihrer bislang größten Herausforderung. Die Rote Armee Fraktion (RAF), die im April 1977 Generalbundesanwalt Siegfried Buback und im Juli den Bankier Jürgen Ponto ermordet hatte, entführte den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer. Ziel war es, die RAF-Anführer und andere Kampfgenossen aus den Gefängnissen freizupressen. Die SZ dokumentiert die dramatischen Tage der Schleyer-Entführung vom 5. September bis zum 19. Oktober, für die sich der Begriff "Deutscher Herbst" eingeprägt hat. Hinzu kommen politische Einschätzungen von damals und heute sowie neue Erkenntnisse der Zeitgeschichte. Die bisher erschienenen Folgen im Überblick.

Tag 22: Montag, 26.September. Ein Angebot vom "Paten"

Erstmals wird öffentlich über einen möglichen Aufenthaltsort des entführten Arbeitgeberpräsidenten spekuliert. Die niederländische Zeitung De Telegraaf berichtet unter Hinweis auf Polizeiquellen, Hanns Martin Schleyer werde auf einem Boot auf holländischen Binnengewässern oder der Nordsee festgehalten.

Bonn gibt dazu weder eine Bestätigung noch ein Dementi ab. Regierungssprecher Klaus Bölling wirbt in der Bundespressekonferenz erneut für die Nachrichtensperre und verweist auf eine Allensbach-Umfrage, wonach 70 Prozent der Bürger der freiwilligen Selbstzensur der Presse zustimmen.

Nach den beiden Schießereien in den Niederlanden haben sich mehrere Entführer Schleyers nach Bagdad abgesetzt. Sie wollen der Fahndung entfliehen und sich sozusagen ein wenig von den Strapazen der vergangenen Wochen erholen. Nachdem die Strategie des schnellen Austauschs nicht funktioniert hat, setzen nun auch die Terroristen auf den Faktor Zeit. Irgendwann werde die Bundesregierung schon reagieren.

Im Irak unterhält die RAF gute Kontakte zur "Volksfront für die Befreiung Palästinas" (PFLP). Die PFLP hat die Vernichtung Israels zum Ziel und möchte die Welt auf das "unterdrückte" palästinensische Volk aufmerksam machen. Deren Spezialkommando betreibt im Südjemen Terrorcamps, wo 1976 auch einige der RAF-Mitglieder den bewaffneten Kampf trainiert hatten.

Der Chef des Kommandos, Wadi Haddad, genannt Abu Hani, bietet in diesen Tagen den RAF-Leuten an, ihre Aktion mit einem "von uns durchgeführten Kommandounternehmen" zu unterstützen. Er hat zwei fertig ausgearbeitete Vorschläge parat, um der Freipressung der Gefangenen aus deutschen Gefängnissen mehr Nachdruck zu verleihen: die Besetzung der deutschen Botschaft in Kuwait oder die Entführung eines deutschen Flugzeugs. Hijacking-Aktionen gelten als Spezialität Haddads, der als "Pate des internationalen Terrors" bekannt ist.

Eine Botschaftsbesetzung kommt für die deutschen Terroristen nach der missglückten Aktion in Stockholm 1975 auf keinen Fall mehr in Frage, Flugzeugentführungen hatten sie bisher mit dem zynischen Argument abgelehnt, dabei könnte ja "das Volk" in Mitleidenschaft gezogen werden. Doch nach langer Debatte geben die deutschen Gäste bei den Palästinensern eine Flugzeugentführung in Auftrag. Sie sehen keinen anderen Weg mehr, ihre Genossen in den Gefängnissen freizupressen.

Im Großen Politischen Beratungskreis stimmen die Teilnehmer Kanzler Schmidt zu, dass die "Bemühungen um die Sicherung der Banken vor Raubüberfällen weiter verstärkt werden müssen". Am Vormittag war in Bremen eine Bank ausgeraubt worden, vier bewaffnete "Terroristen" (Bild-Zeitung) hatten eine halbe Million Mark erbeutet.Banküberfälle waren die Haupteinnahmequelle der RAF.

Tag 23: Dienstag, 27.September. Jan-Carl Raspe redet von "toten Gefangenen"

Nach einer längeren Zeit des Verhandlungsstillstands melden sich die Entführer von Hanns Martin Schleyer wieder zu Wort. Sie haben am Tag zuvor in Paris zwölf identische Briefe aufgegeben. Diese sind unter anderem an verschiedene Medien gerichtet, jedem Brief liegt ein Bild des Arbeitgeberpräsidenten bei.

Er hält darauf ein großes Schild mit der Aufschrift: "Seit 20 Tagen Gefangener der RAF." In ihrem Schreiben fordern die Entführer den Fahndungsstopp in Frankreich, Holland und in der Schweiz. Sie weisen erneut darauf hin, dass "unsere Forderung nach Einstellung aller Fahndungsmaßnahmen nach wie vor gilt". Offenbar haben die Terroristen auch mitbekommen, dass Vermittler Denis Payot abgehört wird, sie warnen die Regierung, weiterhin "Fangschaltungen oder dergleichen als Fahndungsmittel" einzusetzen. Die erfolglosen Bemühungen von Staatsminister Hans-Jürgen Wischnewski im Ausland erfüllen die Entführer ebenfalls mit Sorge. Sie teilen mit, "daß wir sicher wissen, daß es Länder gibt, die zur Aufnahme der 11 Gefangenen bereit sind".

In Stuttgart-Stammheim bittet Jan-Carl Raspe um den Besuch eines BKA-Beamten, er habe etwas mitzuteilen.

Der Terrorist übergibt ein Schreiben, worin es heißt: "Vorausgesetzt, die bereits genannten Länder lehnen die Aufnahme ab, nennen wir noch eine Reihe weiterer Länder: Angola, Mozambique, Guinea-Bissau, Äthiopien." Dem Beamten fällt das Wort "wir" auf, er fragt Raspe, ob sich die Gefangenen untereinander verständigen können - aufgrund der Kontaktsperre müsste eigentlich jede Kommunikation unterbunden sein. Raspe wird verlegen und schweigt. Dann sagt er laut Gesprächsprotokoll: Die lange Dauer der Entführung lasse darauf schließen, dass eine "polizeilichen Lösung" beabsichtigt sei. Damit wäre eine "politische Katastrophe" programmiert, nämlich "tote Gefangene".

"Deutscher Herbst"

Quellen und Literatur zur SZ-Serie über den RAF-Terrorismus 1977. Zur Übersicht

In den Niederlanden wird nach den beiden Schießereien mit großer Intensität nach RAF-Mitgliedern gesucht. Zu den Verdächtigen gehören auch Angelika Speitel und Sigrid Sternebeck. Der Terrorist Knut Folkerts, der einen Polizisten erschossen hatte und danach in Utrecht verhaftet worden war, wird mehrfach befragt.

Sein Anwalt Pieter Bakker-Schut behauptet, man habe Folkerts eine Million Mark, einen neuen Pass und die Ausreise in die USA angeboten, wenn er etwas über den Aufenthalt von Schleyer verrate. Die Idee soll Horst Herold gehabt haben, das "Angebot" wurde nie offiziell bestätigt. Doch Folkerts sagt nichts.

In Bonn beraten die Bundestagsfraktionen den in aller Eile erstellten Gesetzentwurf für eine "totale Kontaktsperre". Kanzler Helmut Schmidt sagt vor der SPD-Fraktion, die Regierung sei "zu dem Ergebnis gekommen, dass während der Andauer der Entführung Schleyers die Unterbrechung aller Kontakte zwischen Verteidigern und bestimmten terroristischen Häftlingen unabdingbar notwendig war". Mehrere Abgeordnete melden rechtspolitische Bedenken an, ebenfalls der Koalitionspartner FDP.

Die Serie erschien in einer ersten Version 2007 - und wurde für die Neuveröffentlichung leicht überarbeitet und erweitert. Die Rechtschreibung in Zitaten entspricht der Schreibweise der damaligen Zeit.

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