Serie auf SZ.de:Einmauern oder teilen

Das alte Asylrecht wurde 1993 abgeschafft. Die Politik glaubte, damit sei das Flüchtlingsproblem gemeistert. Das war eine große Täuschung - die Probleme sind wieder da, und drängender als je zuvor.

Von Heribert Prantl

Die Flüchtlingsfrage könnte die Frage dieses Jahrhunderts werden. Die Frage des Jahres 2015 ist sie in jedem Fall: Kaum ein Tag vergeht ohne Meldungen, ohne Ereignisse, die erschüttern oder erfreuen, die bewegen oder nachdenklich stimmen. 800 000 Flüchtlinge werden allein in diesem Jahr nach Deutschland kommen, so viele wie nie zuvor. Sie sind auf der Suche nach Frieden, nach einem besseren Leben. Und sie finden Hilfsbereitschaft, aber auch Hass und Fremdenfeindlichkeit. Wie empfängt Deutschland die Menschen, die hierherkommen? Und wie verändern die Flüchtlinge das Land, in dem sie einen sicheren Hafen suchen? Bis zu diesem Samstag widmet SZ.de dem Thema Flüchtlinge in Deutschland einen ausführlichen Schwerpunkt. Eine Einführung bietet der folgende Essay, dessen Langfassung unter dem Link SZ.de/Asylpolitik zu finden ist.

Das alte Asylgrundrecht war ein Leuchtturm im Hafen der Verfassung. Dieser Leuchtturm wurde 1993 abgeschaltet und durch ein Teelicht ersetzt. Die Politik glaubte damals, die Flüchtlinge kämen deswegen nach Deutschland, weil es dieses große und leuchtende Asylgrundrecht gibt. Sie glaubte daher, wenn man das Grundrecht ausschaltet, schalte man das Flüchtlingsproblem aus. An die Stelle des alten Artikels 16 Absatz 2 wurde daher der Artikel 16 a Grundgesetz gesetzt, der aus dem großen Asyl ein ganz kleines machen wollte.

Deutschland habe nun lange genug unter seiner geografischen Lage im Herzen Europas gelitten, so hieß es zu Beginn der Neunzigerjahre. Man könne nicht, so hieß es damals landauf, landab, "alles Leid der Welt aufnehmen" (die Flüchtlingszahlen lagen damals bei einem Fünftel der heutigen). Man solle sich, hieß es, in der Flüchtlingsfrage diese Lage Deutschlands in der Mitte Europas doch einmal zunutze machen - und die Staaten, die Deutschland wie ein Ring umgeben, zur Auffangzone für Flüchtlinge erklären. Das tat der neue Artikel 16 a Grundgesetz. Damit, so glaubte die deutsche Politik, sei das Problem mit den Flüchtlingen fürs Erste erledigt. Das stimmte in gewisser Weise auch - die Flüchtlingszahlen sanken. Aber diese erste Zeit ist vorbei. Die Not am Rande Europas, das Elend und der Krieg vor den Toren Europas sind stärker als das Abwehr-Asylrecht von 1993. Die Probleme, die man damals weggeschoben hat, sind wieder da, größer als damals. Und heute gibt es kein Asylgrundrecht mehr, das man verantwortlich machen könnte für das, was - immer noch im Katastrophenjargon - "Flüchtlingsströme" genannt wird.

22 Jahre nach der Änderung des Asylgrundrechts gibt es auch noch immer kein Einwanderungsrecht, das Migranten, Arbeitskräften, abseits des Asyls, einen genau geregelten Weg nach Deutschland öffnen könnte. Schon damals, zu Beginn der Neunzigerjahre, wurde über ein solches Einwanderungsgesetz debattiert; die SPD war dafür, die Grünen auch. Und diejenigen, die dafür warben, machten das auf sehr plastische Weise: Asylbewerber, so hieß es, das seien die Leute, "die uns brauchen". Einwanderer, Arbeitsmigranten, so hieß es, das sind die Leute, "die wir brauchen".

Record Number Of Migrants Flowing Into Hungary Across Its Borders With Serbia

Sehnsucht nach Sicherheit: Eine Frau auf der Flucht passiert mit ihrem Kind die serbisch-ungarische Grenze.

(Foto: Matt Cardy/Getty)

Ein Einwanderungsgesetz wurde am 6. Dezember 1992 immerhin Teil des berühmt-berüchtigten Parteienkompromisses zwischen CDU/CSU und SPD zur Änderung des Asylgrundrechts, der wegen des Datums als "Nikolauskompromiss" bezeichnet wird; die SPD wollte das Einwanderungsgesetz als Gegenleistung für ihre Zustimmung zur Asylgrundrechtsänderung haben. Es wurde freilich in dem zwischen CDU/CSU und SPD formulierten Asylkompromiss nur in völlig unverbindlicher Form erwähnt. Das Einwanderungsgesetz kam bis zum heutigen Tag nicht zustande.

Interessanterweise ist ein Einwanderungsgesetz auch heute wieder Verhandlungsmasse: In der SPD, vor allem aber bei den Grünen, wird ein Einwanderungsgesetz gefordert als Gegenleistung für die Zustimmung zu einer von der Union propagierten, stark ausgeweiteten Regelung über "sichere Herkunftsländer"; die Staaten Südosteuropas sollen, so ist es von der Union geplant, allesamt als sichere Herkunftsländer gelten, um Flüchtlinge von dort ganz schnell wieder abschieben zu können. Werden sich SPD und Grüne beim neuen Versuch, ein Einwanderungsgesetz zu schaffen, in dieser Frage wieder so über den Tisch ziehen lassen, wie es die Sozialdemokraten 1992/93 beim Asylkompromiss mit sich haben machen lassen?

Die Sozialdemokraten fanden damals kein Gegenmittel, um die Faszination der angeblich einfachen Lösung - "weg mit dem alten Asylgrundrecht" - aufzulösen. Sie mühten sich, den Deutschen etwas von der Genfer Flüchtlingskonvention zu erzählen und auch von der historischen Schuld, deren Ergebnis das Asylgrundrecht sei. Es war vergeblich. Die Verteidiger des Grundrechts wurden schwächer und schwächer. Immer zahlreicher, immer furchtbarer, immer brutaler und mörderischer aber wurden die Angriffe auf Flüchtlinge und Flüchtlingsheime, auch auf türkische Einwanderer und ihre Familien.

Beim Pogrom von Rostock-Lichtenhagen eilten die Politiker nicht zu dem drei Tage lang attackierten Flüchtlingswohnheim; sie eilten in die Beratungszimmer, um das Asylgrundrecht zu ändern. Es war, als hätten die Randalierer die Türen zu den Sitzungssälen aufgestoßen.

Der alte Artikel 16 Absatz 2 Grundgesetz war aber nicht nur wichtig als Schutzgarantie für politisch verfolgte Flüchtlinge. Das alte Asylgrundrecht war auch deswegen so wichtig, weil es so kompromisslos war. Diese Kompromisslosigkeit hätte klarmachen können, dass die Flüchtlingspolitik ganz neue Wege gehen muss, dass es nur eine Alternative gibt: Man kann versuchen, sich einzumauern - oder seinen Reichtum zu teilen.

Es kam aber dann die Wiedervereinigung; und die Deutschen hatten andere Sorgen als die Not der Welt: Die deutsche Einheit war zu bezahlen, der Wohlstand im Westen musste erhalten, der Wohlstand im Osten aufgebaut werden. Es gab zu viele Schwierigkeiten mit der eigenen Lage, als dass man sich noch um die Schwierigkeiten anderswo hätte kümmern können oder wollen - das war die Grundstimmung damals. Und so begann die deutsche Einheit damit, dass ein fraglos schwieriger Auftrag des Grundgesetzes abgeschüttelt wurde.

Bekämpfung der Fluchtursachen? Der deutschen Einheit wegen wurde sie vergessen

Der Bericht der Arbeitsgruppe "Flüchtlingskonzeption", den Wolfgang Schäuble 1990 als Bundesinnenminister vorgelegt hatte - und in dem es auch um die Bekämpfung von Fluchtursachen ging - verschwand in der Schublade. Fluchtursachenbekämpfung, wie sie schon damals propagiert, aber dann der deutschen Einheit wegen wieder vergessen wurde, verlangt erst einmal das Eingeständnis, dass die Armen auch am Reichtum der Reichen verhungern.

In diesen Tagen spricht die Bundeskanzlerin davon, dass Deutschland für Flüchtlinge "ein Land der Hoffnung" sein solle. Das ist ein großes Wort. Daran wird man die Flüchtlingspolitik messen müssen. Es gibt viel wiedergutzumachen. Die große politische Kampagne zur Abschaffung des alten Asylgrundrechts hat furchtbare Schäden angerichtet. Diese wirken bis heute nach.

Nun, im Spätsommer und Herbst 2015, beginnt, hoffentlich, das, was schon vor 23 Jahren hätte beginnen können: eine Flüchtlingspolitik, die sich den Problemen stellt und nicht vor ihnen davonläuft.

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