Serie: Armut in Deutschland (1):Die Risikogesellschaft

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Niemand muss in Deutschland verhungern und doch ist Armut allgegenwärtig. Warum der Glaube an die soziale Marktwirtschaft erodiert und die Angst, selbst in Armut abzurutschen, um sich greift.

Bernd Oswald

Der Mann, der die Abfalleimer am Bordeauxplatz in München-Haidhausen durchsucht, hat ein gepflegtes Äußeres: Rasiert, gekämmt, saubere Kleidung. Von seinem Erscheinungsbild würde man nicht darauf schließen, dass er sich gezwungen sieht, im Müll nach Verwertbarem zu suchen.

Die Angst vorm sozialen Abstieg: Das Armutsrisiko der Deutschen ist gestiegen. Der wirtschaftliche Aufschwung kommt bei den Arbeitnehmern nicht an. (Foto: Foto: ddp)

Der etwa 45-Jährige hat einen Rucksack dabei, in dem leere Pfandflaschen klimpern. Er wird in einigen Abfalleimern fündig und fischt leere Bierflaschen heraus, die er zu den anderen in seinem Rucksack packt. Ein Fall von versteckter Armut?

Diese Szene spielt sich nicht nur täglich im wohlhabenden München ab, sondern in vielen Städten und Gemeinden Deutschlands, ob im Norden, Westen, Süden oder Osten. Vermutlich hat schon jeder so etwas beobachtet. Ein subjektiv sichtbares Zeichen, dass Armut dazugehört zum Alltag in Deutschland.

Das zeigt auch der am Mittwoch verabschiedete dritte Armutsbericht der Bundesregierung. Er enthält eine Reihe Aufsehen erregender Befunde: Jeder achte Bürger des Landes ist relativ arm. Ohne die Geld- und Sachleistungen des Sozialstaats wäre sogar jeder Vierte betroffen. Die Ungleichverteilung der Einkommen hat zugenommen, das Armutsrisiko steigt. Besonders betroffen: Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende, Geringqualifizierte, Menschen mit Migrationshintergrund.

Nun sind solche Zahlen mit großer Vorsicht zu genießen. Sie sind in mehrerlei Hinsicht zu relativieren. Im Armutsbericht geht es vor allem um relative Einkommensarmut. Als relativ arm gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens zur Verfügung hat. Das entspricht 781 Euro pro Monat. Wer dauerhaft ein so niedriges Einkommen hat, hat ein hohes Armutsrisiko. Natürlich ist das keine absolute Armut, die nach einer Definition der Vereinten Nationen vorliegt, wenn ein Mensch mit weniger als einem US-Dollar am Tag auskommen muss.

Und doch macht auch die relative Armut, wie sie in Deutschland gibt, den Betroffenen das Leben schwer, weil sie von vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ausgegrenzt sind, schlicht und einfach, weil sie zu wenig Geld haben.

Der Armutsbericht der Bundesregierung legt den Fokus auf die Stufe, die der Armut vorausgeht: Das Risiko, in Armut abzurutschen, ist hier die zentrale Kategorie. 13 Prozent der Bevölkerung leben in dieser Gefahr. Ohne die Sozialtransfers wären es doppelt so viele, behauptet Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD). Diese Befunde basieren auf einer relativ neuen EU-Befragung namens SILC, die noch keine Aussagen über Entwicklungen macht.

Dazu ist hingegen das Sozio-ökonomische Panel (Soep) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung geeignet. Der traurige Befund: Die Armutsrisikoquote für die Gesamtbevölkerung ist um zwei Prozentpunkte gestiegen.

Diese Aussage bezieht sich auf den Berichtszeitraum 2002 bis 2005, in dem die deutsche Konjunktur darbte und die Arbeitslosenzahl bei mehr als fünf Millionen Menschen lag. Dass der daran anschließende wirtschaftliche Aufschwung gar nicht erfasst sein kann, ist einer der Haupteinwände gegen die Aussagekraft des Armutsberichts.

Seitdem ist die Arbeitslosenzahl um 1,5 Millionen gesunken, die Zahl der Erwerbstätigen auf den Rekordwert von 40 Millionen Menschen gestiegen. Bundeskanzlerin Merkel stellte sich in der letzten Haushaltsdebatte im Bundestag hin und behauptete: "Der Aufschwung kommt bei den Menschen an".

Sicher nicht bei allen 82 Millionen Menschen, die in Deutschland leben. Landauf landab ist die nüchterne Einschätzung zu vernehmen: Meine Familie und ich, wir haben nichts vom viel gerühmten Aufschwung. Im Gegenteil: Wir tun uns schwerer, über die Runden zu kommen.

Menschen mit Migrationshintergrund gehören zu der Gruppe, die von Armut besonders betroffen ist. Auch die Arbeitslosigkeit ist unter Migranten überproportional hoch. (Foto: Foto: dpa)

Diese Stagnation ist nicht nur gefühlt: Die Inflation erreichte im März 3,1 Prozent, vor allem durch die Preisexplosionen für Energie. Neben der Inflation machen aber auch die zunehmenden Unsicherheiten den Menschen zu schaffen. In besonderem Maße gilt das für die Mittelschicht, in der sich die Angst breit macht, von Knall auf Fall von Armut betroffen zu sein.

Das zeigt sich vor allem am Arbeitsmarkt: Die Tendenz geht zu befristeten Arbeitsverträgen, Tarifbindungen fallen, manche Tätigkeiten werden lieber an Zeitarbeitsfirmen vergeben, in der Industrie ist Leiharbeit sehr beliebt. Für den einzelnen Arbeitnehmer nehmen die Unsicherheiten zu, die Planung des nächsten Lebensabschnitts wird schwieriger, ein Kredit für ein Eigenheim zum großen Risiko: Werde ich ihn auch wirklich jahrzehntelang bedienen können?

Der Kasseler Markosoziologe Heinz Bude bringt das auf den Punkt: "Die Mitte selber fängt an, prekär zu werden. Wir haben eine armutsgefährdete Schicht, die wirklich wächst und bis in die Mitte hineinreicht."

Der Aufschwung, von dem die Kanzlerin spricht, kommt eben nicht so recht an. Das ist nicht nur ein weit verbreitetes Gefühl, es gibt auch erste Untersuchungsergebnisse, die das belegen. So hat das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, die Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit, ermittelt, dass vor allem Kapitalanleger die Gewinner des aktuellen Aufschwungs sind, nicht aber Familien mit normalen Arbeitseinkommen.

Zum gleichen Ergebnis kommt das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung: Im Unterschied zu früheren Aufschwungzyklen "sind die Einkommen der privaten Haushalte preisbereinigt kaum gestiegen", heißt es im IMK-Report "Wer profitierte vom Aufschwung?"

Der Armutsbericht der Regierung hält fest, dass in den wirtschaftlich schwachen Jahren 2002 bis 2005 die Einkommen aus unselbständiger Arbeit preisbereinigt um 4,7 Prozent gesunken sind, und das Nettoäquivalenzeinkommen, eine statistische Kennzahl, die das Gesamteinkommen eines Haushalts nach Anzahl und Alter der Haushaltsmitglieder gewichtet, um 2,5 Prozent. Parallel dazu hat das reichste Zehntel der Bevölkerung sein Einkommensvolumen um 1,6 Prozent erhöht, das Vermögen noch gar nicht mitgerechnet.

Die Schere zwischen Arm und Reich ist also noch weiter auseinander gegangen, wieder einmal. Während das zur Gewohnheit wird, nimmt die Empörung darüber neue Ausmaße an. Das entzündet sich nicht nur an den teilweise astronomisch anmutenden Gehaltssteigerungen für die Vorstandsbosse der großen Dax-Unternehmen, sondern zeigt sich auch empirisch.

Die Bertelsmann-Stiftung, die bestimmt nicht zum Lager von Umverteilungsbefürwortern zählt, hat jüngst gefragt, ob es im Großen und Ganzen gerecht ist, was die Menschen besitzen und verdienen. Innerhalb nur eines einzigen Jahres - von 2007 auf 2008 - ist der Anteil der Befragten, die das nicht gerecht finden, von 56 auf 73 Prozent in die Höhe geschnellt - bei Anhängern von allen Parteien übrigens.

Selbst bei der FDP, der Partei, von deren Steuersenkungs-Postulat die Besserverdiener am meisten profitieren würden, sind es noch zwei Drittel. In Deutschland droht genau das einzutreten, was die Regierung im Armutsbericht problematisiert: "Die Verteilung des Reichtums in einer Gesellschaft, insbesondere von Einkommen und Vermögen, hat Einfluss auf ihren Zusammenhalt. Werden die Unterschiede zwischen Arm und Reich als relativ groß und schwer überwindbar wahrgenommen, kann dies die Akzeptanz der sozialen Marktwirtschaft und der Demokratie grundlegend in Frage stellen."

Auch hier hat die Bertelsmann-Stiftung ein korrespondierendes Umfrageergebnis parat: Von der sozialen Marktwirtschaft haben inzwischen mehr Befragte keine gute Meinung mehr. Die starken Zuläufe für die Linkspartei sind auch vor diesem Hintergrund zu sehen.

Es hapert also arg an der Verteilungsgerechtigkeit. Wie diese besser zu gewährleisten ist, darüber werden nach wie vor ideologisch gefärbte (Steuer-)Debatten geführt. Vergleichsweise unstrittig ist dagegen, dass es zumindest Chancengerechtigkeit geben sollte: Chancen auf Aus- und Fortbildung, Chancen auf Arbeitsplätze, Chancen auf Integration, Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe. Wo diese Chancen fehlen, dort ist die Armutsgefahr groß.

So wie bei dem Mann, der in München Pfandflaschen aus den Mülleimern sammelt. Für leere Flasche Bier gibt es acht Cent. Wenn er am Tag 50 Flaschen findet, sind das gerade einmal vier Euro.

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