Seelsorge:"Dann blutet es wieder"

Apr 04 2012 October 1977 Body of Dr Schleyer found n a car boot â€âĜ The body of kidnapped

Mulhouse, Oktober 1977: Polizisten untersuchen das Auto, in dessen Kofferraum die Leiche Hanns Martin Schleyers gefunden wurde.

(Foto: imago/ZUMA/Keystone)

Jörg Schleyer wollte von der ehemaligen RAF-Terroristin Silke Maier-Witt genau wissen, wie sein Vater 1977 ermordet wurde. Hilft es Hinterbliebenen tatsächlich, alle Details über den Tod eines Angehörigen zu erfahren?

Interview von Ulrike Heidenreich

Der Sohn des von der RAF ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, Jörg Schleyer, hat auf Vermittlung der Bild-Zeitung die frühere Terroristin Silke Maier-Witt getroffen. Sie war wegen Beteiligung an der Entführung verurteilt worden und bat den Sohn nun 40 Jahre später um Verzeihung. Hilft das Hinterbliebenen? Ein Gespräch mit dem Notfallseelsorger Hermann Saur, der nach Amokläufen und Flugzeugabstürzen Angehörige betreut.

SZ: Jörg Schleyer wollte von der ehemaligen RAF-Terroristin jedes Detail erfahren. Wie lange war sein Vater in einen Schrank gesperrt? Wie sah es drinnen aus? War es dunkel? Ist es für Hinterbliebene leichter, den Tod zu verarbeiten, wenn sie das alles wissen?

Hermann Saur: Alles ist besser als die Fantasie. Alles, was im Unklaren, im Diffusen bleibt, sorgt dafür, dass sich die Gedanken ununterbrochen damit beschäftigen. Die Fragen, die Herr Schleyer hat, würde jeder stellen, dessen Angehöriger umgebracht worden wäre. Hat er gelitten? Hat er Durst gehabt? Wenn man darauf keine Antworten hat, verhakt sich die Fantasie, es kommen immer mehr Fragen. Nur klare Antworten können da helfen.

Dreht man sich im Kreis und stellt sich immer schlimmere Dinge vor?

Beides. Wir merken das jedes Mal, wenn wir eine Todesnachricht überbringen. Wenn da Sätze kommen wie "Schauen Sie sich Ihren Angehörigen bloß nicht an. Behalten Sie ihn in Erinnerung, wie er war." Das ist so was von kontraproduktiv. Wie soll ich denn einen Angehörigen in guter, unversehrter Erinnerung behalten, wenn ein Polizist so eine Warnung von sich gibt. Da kommt sofort die Fantasie, die fragt: Oh Gott, wie furchtbar sieht denn mein Angehöriger nur aus?

Was ist der richtige Weg?

Unser Grundsatz heißt: Die Entscheidung, ob jemand einen Toten sehen und über die Details seines Sterbens Bescheid wissen möchte, trifft der Angehörige - und sonst niemand. Unsere Verantwortung ist es dann, dieses Abschiednehmen gut zu begleiten, notfalls schwerste Verletzungen abzudecken. Dann sagen wir, dort liegt Ihr Angehöriger, er hat folgende Verletzungen. Wenn es Ihnen wichtig ist, ihn zu sehen, tun Sie das. Für fast hundert Prozent ist das ein gutes Abschiednehmen.

Reißt es nicht Wunden auf, wenn zum Beispiel der Schleyer-Sohn die Verhör-Tonbänder der Terroristen hört und die Stimme des Vaters noch einmal vernimmt?

Natürlich. Aber Trauerarbeit bedeutet ja, dass die Wunde am Anfang so stark blutet, dass man glaubt, sie schließt sich nie mehr. Die seelische Wunde wird irgendwann zur geschlossenen Wunde, und hoffentlich irgendwann zu einer Narbe. Wenn Angehörige die Stimme hören, ist es so, wie wenn man am Schorf einer Wunde kratzt. Dann blutet es wieder. Aber es führt auch zu einer Wundheilung. Das ist eine lange Lebensaufgabe.

Was bedeutet es für die Angehörigen von Opfern der RAF, wenn sich Täter bei ihnen entschuldigen? Maier-Witt hat Jörg Schleyer um Verzeihung gebeten.

Die Familie Schleyer musste erleben, dass es Menschen gibt, die das Leben des Ehemannes und Vaters einen Dreck interessiert hat. Sie brachten ihn um wegen eines politischen Statements. Der Mensch, den sie lieben, ist den Terroristen nichts wert - so ist das Gefühl. Es ist gut, wenn da jemand zumindest verurteilt wird. Wenn ein Angehöriger weiß, der Täter sitzt im Gefängnis, steht aber immer noch zu seiner Tat, dann bleibt da etwas offen. Eine Rechnung, die nur der Täter bezahlen kann. Indem er ehrlich sagt, dass es ihm leidtut.

Wann ist es besser, nichts zu wissen? Oder Details nicht zu kennen?

Es ist mir noch nie passiert, egal wo und wie jemand ums Leben gekommen ist, dass ein Angehöriger nichts wissen wollte. In Krisensituationen sollten Helfer nur die Details nennen, die abgefragt werden. Wenn sich jemand suizidiert hat, dann heißt die erste Information nur: "Ihr Mann wurde tot aufgefunden, er hat sich das Leben genommen." Erst später kommen dann die Fragen: "Wie hat er es gemacht? Hat er gelitten?"

Warum kann es Angehörigen helfen zu wissen, wie ein Tatort aussieht, zum Beispiel der Schrank, oder den Tatort noch einmal zu besuchen?

Die Leute zieht es dorthin, wo Angehörige die letzten Minuten erlebt haben. Sie suchen noch einmal ihre Nähe. Wir brauchen diese Orte für die Trauerverarbeitung.

Dass aus der Trauer ein Trauma wird - geschieht das häufig?

Die Statistik zeigt, dass die Chance größer ist, dass Trauer Trauer bleibt. Gerade bei uns in Deutschland, wo nicht andere Extrembelastungen dazukommen wie Kriege, dürfen wir darauf vertrauen, dass die meisten Menschen die inneren Ressourcen haben, damit ihre Trauer nicht zu einer psychischen Erkrankung wird. Das wäre sonst eine dauerhafte Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses.

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