Schwarzwälder Juden:Kibbuz auf schwäbisch

Vor siebzig Jahren verließen die Juden aus Rexingen den Schwarzwald, um in Palästina ihr Dorf neu aufzubauen. Den Schwaben glückte die einzige Gruppenauswanderung im Dritten Reich.

Johannes Honsell

Am 6. Februar 1938 nahm tief im Schwarzwald ein Dorf Abschied von sich selbst. In der Synagoge steckte man die Kerzen an, sang ein paar Lieder, und dann sprach der jüdische Lehrer Wolf Berlinger ein paar Worte: "Wir wollen den alten Wunsch Herzls erfüllen, eine dorfweise Umsiedlung. Wie die Pflanze mit allen Würzelchen und Fasern versetzt werden darf, soll auch eine Gemeinde mit all ihren Bindungen und Institutionen nach Erez umgepflanzt werden."

Schwarzwälder Juden: Diese Postkarte von Mitte der 1930er Jahre zeigt den Blick auf Rexingen und das dahinter gelegene Neckartal.

Diese Postkarte von Mitte der 1930er Jahre zeigt den Blick auf Rexingen und das dahinter gelegene Neckartal.

(Foto: Foto: oh)

Das war zumindest die Idee, die am Anfang stand: Die gesamte jüdische Gemeinschaft Rexingens sollte nach Palästina auswandern und dort ein neues Dorf bauen. Sollte wieder Land kultivieren, in Frieden, wie man hoffte, ohne "Juden-raus"-Schilder vor den Läden und Hakenkreuzpfeilern am Dorfeingang. Mit den Arabern würde man sich schon arrangieren, man würde Hebräisch lernen und sonst bei der Feldarbeit Schwäbisch schwätzen.

Es sollte die erste geglückte Gruppenauswanderung nach Palästina während des Nazi-Regimes werden. Und die einzige. Dabei dachte noch zu Beginn der dreißiger Jahre kaum jemand in Rexingen daran auszuwandern. Etwa ein Drittel der rund 900 Bewohner besuchte die Synagoge anstatt der Kirche, sonst aber war man vom gleichen Schlag: heimatverbunden, arbeitsam und etwas wortkarg.

Als der Judenhass politisch opportun wurde, wählte man in Rexingen weiter Zentrum oder SPD und scherte sich ansonsten wenig um die braunen Kader. "Judennest", schimpften die umliegenden Gemeinden, "uneinnehmbare Festung", jammerte die NSDAP. Doch nach Hitlers Machtübernahme im Januar 1933 wucherte das Geschwür allmählich auch in Rexingen. Gegenüber der Dorfgaststätte hetzten "Stürmer"-Plakate "Die Juden sind unser Unglück", der liberale Bürgermeister musste einem tumben Eiferer in Uniform weichen.

Ventil im Nazi-Druckkessel

Und die Spielschar des Gesangsvereins gab das Stück "Muttertreu", in dem der "raffende Jude" so gierig wie erfolglos nach dem Bauernhof der deutschen Landfrau trachtet. "Die vielen Besucher waren alle hoch befriedigt von dem Gebotenen", freute sich das Schwarzwälder Volksblatt. Aus den angesehenen jüdischen Viehhändlern des Dorfes wurden in Hetzschriften "zungenfertige Hebräer", denen Vieh abzukaufen deutsches Blut verunreinigte.

Die Heimat verlor ihre vertrauten Farben und wurde fremd, und wer Kommendes ahnte, schickte sich an zu gehen. In Rexingen wollten sie das gemeinsam machen. Es waren die Jungen, die von Beginn der dreißiger Jahre an die Idee vorantrieben. Palästina, das Land der Vorväter, faszinierte sie, und wer im Schwarzwald Vieh züchten konnte, der konnte das auch in Galiläa.

Wolf Berlinger, Lehrer und eine Art zionistischer Ziehvater der Dorfjugend, veranstaltete Hebräischkurse und lud zu Vorträgen über das Gelobte Land. Die "Rückkehr nach Jeruschalaim" wurde im Nazi-Druckkessel zum Ventil, und auch die Aussicht, die Heimat einfach ein Stück weit mitzunehmen. Die Reichsvertretung der deutschen Juden und andere jüdische Verbände unterstützten das Vorhaben.

Emissäre kamen nach Rexingen und befanden, ganz in der technisierten und entmenschlichten Sprache der Weltkriegsära, die Rexinger für würdige Pioniere: "Der gestern durchgeführte Besuch in der Jüdischen Gemeinde Rexingen bei Horb in Württemberg ergab, dass dort zweifellos das beste Siedlermaterial vorhanden ist, das bisher überhaupt in Deutschland vorgefunden werden konnte. Vor allen Dingen machen die Frauen einen ausgezeichneten Eindruck."

Lesen Sie auf Seite 2, mit welchen Problemen die Rexinger beim Verlassen Deutschlands zu kämpfen hatten.

Kibbuz auf schwäbisch

Wie schwierig es werden würde, Deutschland gemeinsam zu verlassen, ahnten zu Beginn weder der Lehrer Berlinger noch dessen junge Mitstreiter. Und auch nicht, dass es nicht die Deutschen sein würden, die den Aufbruch beinahe verhindert hätten, sondern die britischen Kolonialherren, für die nur ein reicher Einwanderer ein guter Einwanderer war. Großbritannien erlaubte nur jenen unbeschränkten Zuzug ins gelobte Land, die über 1000 Pfund Kapital verfügten, etwa 20.000 Reichsmark. Ein Arbeiter verdiente damals knapp 1400 Reichsmark - pro Jahr.

Schwarzwälder Juden: 1933 errichteten die Nationalsozialisten auf einem Hügel oberhalb von Rexingen einen Hakenkreuz-Pfeiler.  Postkarte Mitte der 1930er Jahre.

1933 errichteten die Nationalsozialisten auf einem Hügel oberhalb von Rexingen einen Hakenkreuz-Pfeiler. Postkarte Mitte der 1930er Jahre.

(Foto: Foto: oh)

Die Bauern von Rexingen mussten ihr Hab und Gut verkaufen, und zwar gleichzeitig, um gemeinsam ausreisen zu können. Für alle alten Verwandten und mittellosen Arbeiter musste man auf eines der raren Einreisezertifikate hoffen, die nicht an Besitz gebunden waren. Zugleich mussten Kundschafter aus dem Dorf in Palästina ein geeignetes Areal finden. Das Gelobte Land wiederum war kein Garten Eden, geschweige denn wie der Schwarzwald.

1936 kam es zu Araber-Aufständen, und Teilungspläne der Briten machten Siedlungsvorhaben zum Vabanquespiel: Auf welcher Seite der Grenze würde man sich wiederfinden? Vor diesen Schwierigkeiten kapitulierten zahlreiche Rexinger. Andere mussten einspringen, aus umliegenden Dörfern und Gemeinden, um das nötige Geld aufzubringen, sodass schließlich nur noch der Nukleus des Unternehmens aus dem Dorf selbst stammte.

Aufbau innerhalb eines Tages

Doch das Projekt starb nicht, und ein paar Tage nach dem Abschiedsgottesdienst in der Synagoge Anfang Februar 1938 stach die erste Gruppe in See.

"Am Montag haben eine Anzahl Juden Rexingen verlassen. Ihr Ziel ist Palästina. Wir trauern ihnen nicht nach, sondern fühlen uns beträchtlich erleichtert", schrieb das Schwarzwälder Volksblatt. Wenige Monate später brannten überall im Reich die Synagogen.

Insgesamt erreichten mehr als hundert Schwarzwälder Viehzüchter, Händler und Kaufleute Galiläa. Dort, zwischen Naharija und Akko, machten sie sich daran, Shavei Tzion zu errichten - ein kleines Rexingen im Geiste, eine umzäunte Barackensiedlung in der Realität. Die Siedlung inklusive Turm und Mauer musste innerhalb eines Tages stehen, um nicht schutzlos arabischen Angriffen ausgesetzt zu sein.

Am 13. April 1938 rollten Lastwagen mit Fertigbauteilen auf das Gelände. Am Ende des Tages standen Turm, Mauer und drei Baracken, die sich zu Beginn etwa vierzig Siedler teilen mussten.

Die Siedlung funktionierte nach einem Genossenschaftsmodell, das sich die Bauern bereits in Rexingen ausgedacht hatten. Jeder sollte Grundkapital einlegen und für die Genossenschaft arbeiten, von der er einen kleinen Lohn erhielt. Kibbuz auf schwäbisch.

Lesen Sie auf Seite 3, wie die Neuankömmlinge von den Kolonialherren empfangen wurden.

Kibbuz auf schwäbisch

Schwarzwälder Juden: Die Zäune waren das Erste, was die schwäbischen Siedler bei ihrer Ankunft in Shavei Tzion errichteten. Mittagsvesper am ersten Tag.

Die Zäune waren das Erste, was die schwäbischen Siedler bei ihrer Ankunft in Shavei Tzion errichteten. Mittagsvesper am ersten Tag.

(Foto: Foto: oh)

Dass es ein ganzes Dorf nach Palästina geschafft hatte, sorgte in der jüdischen Gemeinschaft für Furore. Chaim Weizmann, Präsident der Zionistischen Weltorganisation, besuchte im Mai 1938 Shavei Tzion.

Rabbiner Leo Baeck sandte aus Deutschland ein Grußwort. Und die Jüdische Rundschau brachte einen ganzseitigen Artikel: "Von Rexingen nach Schawe Tzion - in zwölf Stunden entsteht ein Dorf".

Die Kolonialherren empfingen die Neuankömmlinge mit britischer Höflichkeit und übersetzten ihre Grußworte ins Hebräische, was von den Schwarzwäldern kaum einer verstand.

Nachts peitschten manchmal Schüsse durch die Ebene, aber die großen arabisch-jüdischen Schlachten wurden in Shavei Tzion nicht geschlagen.

Die größere Sorge galt in den Anfangsjahren den Daheimgebliebenen. Den Verwandten und Freunden, die die Reise nicht mitmachen wollten oder konnten, oder denen die Briten die Einreise verweigert hatten. Den Fröhlichs, die ihren Sohn gerade noch alleine nach Palästina schicken konnten. Den sechs Lembergers, von denen es keiner mehr hinaus schaffte.

Shavei Tzion überstand den Zweiten Weltkrieg, und auch den Krieg mit den Arabern von 1948. Die Schwaben bekamen Gesellschaft von einwandernden Juden aus dem Maghreb, aus dem Irak, aus Ägypten. "Der schwäbische Charakter des Dorfes änderte sich etwas, der deutsche blieb, denn auch die aus anderen Ländern jetzt und später neu Hinzugekommenen lernten deutsch", schrieb der Schriftsteller Leopold Marx, einer der ersten Bewohner Shavei Tzions.

Bis vor einigen Jahren konnte man in Shavei Tzion auch noch urschwäbische Gründungsmitglieder antreffen, die Besuchern augenzwinkernd mitteilten: "Gucket Sie sich die jüdischen Gemeinden in Nordafrika an. Seit tausend Jahren ist dort nichts verändert worden. Von uns schwäbischen Juden haben viele Juden erst das Schaffen gelernt."

Zu Rexingen, dem Dorf, in dem alles begann, bestanden nach dem Krieg lange Zeit kaum Beziehungen. Besucher aus Shavei Tzion wurden eher misstrauisch begrüßt. Kamen sie, um die Häuser zurückzufordern, die mehrheitlich von Rexingern aufgekauft worden waren? Man händigte den Besuchern die Schlüssel zum jüdischen Friedhof aus, und bald danach war wieder Ruhe.

Erst Mitte der neunziger Jahre begann man sich mit den vertriebenen Rexingern näher zu befassen. Ein Verein zur Erhaltung der ehemaligen Synagoge wurde gegründet, engagierte Dokumentaristen begannen zu forschen. Eine große Ausstellung zum 70. Jubiläum entstand. Rexingen kehrte langsam heim zu Shavei Tzion.

Dort, in Israel, leben heute 850 Menschen. Es werden Avocados angebaut, und am Ortseingang steht eine Plastikfabrik. Die Bewohner haben ein "Rexinger Zimmer" eingerichtet, in Erinnerung an die ferne schwäbische Heimat, und 128 Namen in die Wand graviert: der Fröhlichs, der Lembergers. Und all der anderen Rexinger, die Palästina nie erreicht haben.

Der Geschichte Rexingens und Shavei Tzions ist eine Ausstellung gewidmet, die noch bis zum 27. November im Rathaus von Stuttgart zu sehen ist.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: