Generalstreik gegen Sparpläne:Krawalle in Athen - "Mutter aller Streiks" eskaliert

In Griechenland hat der wohl größte Arbeitskampf seit Beginn der Schuldenkrise begonnen. Mehr als hunderttausend Menschen versammeln sich vor dem Parlament in Athen, es kommt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Sie protestieren gegen ein drakonisches Sparpaket, das das Parlament verabschieden soll. Warum die Griechen auf die Straße gehen, welche Folgen der Sparkurs bislang hatte - und warum dennoch Hoffnung besteht.

Griechenland streikt. 48 Stunden. Apotheker und Ärzte streiken, Busfahrer und Müllmänner streiken. Gestreikt wird aber auch dort, wo eigentlich die Lösung für die Schuldenkrise erarbeitet werden sollte: im Finanzministerium.

Dem krisengeplagten Land droht der totale Stillstand. Es ist die Rede vom "größten Streik seit Jahrzehnten", von der "Mutter aller Streiks". Premier Papandreou warnt vor einem "Kriegszustand". Auf dem zentralen Platz vor dem Parlament in Athen versammeln sich mehr als 100.000 Menschen, zunächst verlaufen die Demonstrationen friedlich. Doch dann liefern sich mehr als hundert Vermummte Auseinandersetzungen mit der Polizei, sie schleudern mehrere Brandsätze auf die Einsatzkräfte. Mit Hämmern und Brechstangen schlagen die Demonstranten auf Gebäude ein, abgebrochene Marmorstücke werfen sie auf die Polizisten.

Die Beamten setzen Tränengas und Blendgranaten ein, die Demonstranten pfeifen die Randalierer aus. Über dem zentralen Syntagma-Platz hängt dicker Rauch, die Stimmung ist aufgeheizt. Mindestens sieben Menschen werden verletzt ins Krankenhaus gebracht. Es gibt zahlreiche Leichtverletzte, die über Atemnot klagen oder leichte Verbrennungen beziehungsweise Platzwunden erlitten. Auch in Thessaloniki, der zweitgrößten Stadt des Landes, werden die Schaufenster von mehreren Läden eingeworfen, die trotz des Streiks geöffnet haben. In Thessaloniki gehen 15.000 Menschen auf die Straße, in Patras 20.000.

"Wir haben die Grenzen unserer Geduld erreicht, und, was noch schlimmer ist, es gibt keinen Schimmer Hoffnung", zitiert das Wall Street Journal einen Sprecher der Gewerkschaft GSEE. "Wir wollen eine starke Botschaft senden, dass der drakonische Sparkurs eine Katastrophe für Griechenland ist."

Der Grund für die Wut: Das Parlament stimmt über die radikale Sparpolitik ab. Am Mittwochabend nahm das sogenannten "Multi-Spargesetz" die erste wichtige Hürde: Dafür stimmten alle 154 Abgeordnete der regierenden Sozialisten, dagegen votierten 141 Abgeordnete. Am Donnerstag müssen vom Parlament noch einzelne Artikel des neuen Gesetzes gebilligt werden. Das Gesetz sieht unter anderem folgende massive Einschnitte für die Griechen vor:

[] Erstmals seit 100 Jahren soll die Entlassung von Staatsbediensteten ermöglicht werden. Ende September hatte die Regierung beschlossen, dass bis Jahresende 30.000 Stellen im öffentlichen Dienst gestrichen werden sollen. Die Betroffenen sollen in die Arbeitsreserve versetzt werden, was bedeutet, dass sie ein Jahr lang 60 Prozent ihres Lohns erhalten und danach entlassen werden. Jedes Unternehmen muss der Anordnung des Finanzministeriums nach "mindestens zehn Prozent" seiner Angestellten auf die Entlassungsliste stellen. In Griechenland arbeiten etwa 20 Prozent der Menschen für den Staat. Zum Vergleich: In Deutschland sind es lediglich elf Prozent.

[] Beamte und andere Staatsbedienstete sollen eine Kürzung ihrer Löhne und Gehälter um weitere 20 Prozent hinnehmen - eine Folge der erneuten Änderung der Einkommensteuerskala innerhalb nur weniger Monate. Eine Kürzung um 20 Prozent sah bereits das Gesetz N. 3986/2011 über "Dringliche Maßnahmen zur Umsetzung des mittelfristigen volkswirtschaftlichen Rahmens 2012 bis 2015" vom Juni 2011 vor. Nach der neuerlichen Kürzung erreichen die Löhne und Gehälter der Beamten Schätzungen zufolge 65 Prozent des Niveaus von Dezember 2009. Nach Berechnungen der Rechnungsprüfungsbehörde sollen die Einsparungen etwa zwei Milliarden Euro im Jahr bringen. Die Änderungen sollen rückwirkend vom Januar 2011 an gelten.

[] Betroffen von den Kürzungen sind auch die Beamtenpensionen: Der Teil der Pension, der über einer Grenze von 1000 Euro liegt, soll im Monat um 20 Prozent gekürzt werden. Frühpensionierte von unter 55 Jahren, hauptsächlich ehemalige Polizisten und Angehörige des Militärs, sollen künftig um 40 Prozent weniger erhalten. Pensionen früherer Bankangestellter sollen um 15 Prozent gekürzt werden. Diese Kürzungen sollen den Schätzungen zufolge dem Staat Einsparungen von 235 Millionen Euro im Jahr bringen und den Rentenfonds, den der Staat betreibt, um eine Milliarde Euro entlasten.

[] Der Steuerfreibetrag soll nun von 8000 Euro auf 5000 Euro gesenkt werden. Dies ist die zweite Senkung innerhalb weniger Monate: Im Sparpaket von Juni 2011 war der Freibetrag rückwirkend zum Januar von 12.000 Euro auf 8000 Euro gesenkt worden.

[] Die Solidaritätssteuer, die auch im Sparpaket vom Juni enthalten ist, soll im kommenden Jahr zwei Mal bezahlt werden - und zwar sowohl auf das Einkommen im Jahr 2012 als auch rückwirkend auf das diesjährige Einkommen. Das Gesetz vom Juni 2011 sieht einen einkommensabhängigem Solidaritätszuschlag in Höhe von ein bis vier Prozent vor, Abgeordnete, Minister und hochrangige Beamte sollen fünf Prozent leisten.

"Die Situation ist an einem sehr schwierigen Punkt angelangt und in der Öffentlichkeit macht sich Zorn breit", erklärt Illias Illiopoulos, Generalsekretär der Gewerkschaft ADEDY. "Unser Ziel ist es, zu verhindern, dass dieses neue Maßnahmenpaket verabschiedet wird." Doch die Sparmaßnahmen gelten als Voraussetzung dafür, dass sich Griechenland für die nächste Tranche des Rettungspakets im Umfang von 110 Milliarden Euro qualifiziert. Die Hilfsrate würde das Land von Mitte November bis Mitte Januar 2012 zahlungsfähig halten.

Angesichts des drohenden Staatsbankrotts hatte Ministerpräsident Papandreou sein Volk zur Einigkeit aufgerufen. Das Sparpaket müsse beschlossen werden, damit es Griechenland aus der Krise schaffen könne. "Jeder muss seiner Verantwortung gerecht werden", sagte der Regierungschef zum Wochenbeginn. Er rief seine Landsleute außerdem auf, nicht mehr zu streiken. "Wenn wir das Land zersetzen, werden wir nicht das Geld finden, um Löhne und Renten zu zahlen", warnte er. Seine Regierung werde dem Druck der Streiks standhalten.

HIV, Suizid - die Folgen der Rezession

Allerdings ist auch die knappe Mehrheit Papandreous bei der morgigen Abstimmung im Parlament brüchig. So haben bereits zwei Mitglieder der regierenden Pasok Widerstand angekündigt, sollte eine umstrittene Maßnahme zu den Gehältern im Privatsektor Teil des Pakets bleiben. Demnach sollen Firmen ihre Lohnkosten massiv senken können, indem sektorweite Tarifvereinbarungen aufgehoben werden und stattdessen das Unternehmen interne Lohnvereinbarungen treffen kann. Am Montag hatte außerdem der kritisch eingestellte Pasok-Abgeordnete Thomas Robopoulos aus Protest sein Mandat niedergelegt. Er könne nicht länger für ungerechte und unpopuläre Gesetze stimmen, schrieb er in einem Brief an Papandreou.

People take part in an anti-austerity rally in Athens' Syntagma square

Es könnten die größten Proteste in Athen in diesem Jahr werden: Auf dem Syntagma-Platz der griechischen Hauptstadt haben sich am Mittag bereits Zehntausende versammelt, um gegen das geplante Sparpaket der Regierung zu protestieren.

(Foto: REUTERS)

Seit fast zwei Jahren laufen die Gewerkschaften Sturm gegen den drastischen Sparkurs: Im Dezember 2009 stellte die neue griechische Regierung des Sozialisten Papandreou ihre radikalen Reformpläne vor. Papandreou rief seine Landsleute in einem dramatischen Appell auf, gemeinsam zu Handeln. In Athen kam es zu Massenprotesten gegen den angekündigten Sparkurs.

Im März 2010 verabschiedete das Parlament ein erstes Sparpaket im Umfang von 4,8 Milliarden Euro, das bereits Kürzungen der Gehälter im öffentlichen Dienst, Nullrunden für Rentner und Steuererhöhungen auf Tabak, Benzin und Luxusgüter vorsah. Zudem stieg die Mehrwertsteuer um zwei Prozentpunkte auf 21 Prozent. Im Dezember 2010 präsentierte der damalige Finanzminister Giorgos Papakonstantinou dem Parlament einen Etatplan für 2011, der Einsparungen in Höhe von 6,13 Milliarden Euro vorsah - zusätzlich zu den bereits beschlossenen Sparmaßnahmen. Die Pläne sahen unter anderem drastische Einschnitte im Gesundheitswesen vor.

Der harte Konsolidierungskurs aus Ausgabensenkungen, Steuererhöhungen, Lohn- und Rentenkürzungen trieb die griechische Wirtschaft tief in die Rezession, ohne dass der Schuldenstand abgebaut worden wäre: Die Arbeitslosigkeit ist stark angestiegen, im ersten Quartal dieses Jahres lag sie bei 15,9 Prozent - ein Anstieg von 4,2 Prozentpunkten im Vergleich zum Vorjahr.

Im zweiten Quartal lag die Quote bei 16,3 Prozent - nach Angaben des nationalen Statistikamts ist dies der höchste Stand seit Beginn der Datenerhebung 1998. Fast die Hälfte der Arbeitsfähigen unter 35 Jahren hat keinen Job. Aufgrund der Sparmaßnahmen müssen viele Griechen mit weniger Geld auskommen, gleichzeitig sind die Preise erheblich gestiegen.

Eine neue Studie, die die britische Fachzeitschrift The Lancet online veröffentlicht hat, untersucht, wie sich die Rezession auf die Gesundheit der Griechen auswirkt - die Ergebnisse sind erschütternd. So weisen die Forscher 2010 eine Zunahme der Suizide um 25 Prozent gegenüber dem Vorjahr nach. In der ersten Hälfte 2011 nahmen sich dem Gesundheitsministerium zufolge sogar 40 Prozent mehr Menschen das Leben als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Darüber hinaus stellt die Studie eine drastische Zunahme der HIV-Infektionen fest: Auf Basis der jüngsten Daten sagen die Forscher für dieses Jahr einen Anstieg um 52 Prozent im Vergleich zum Vorjahr voraus. Dieser lasse sich auf die Ansteckung unter spritzenden Drogenabhängigen, aber auch auf die Zunahme von Prositution zurückführen.

Am Wochenende treffen sich die Staats- und Regierungschefs der EU, um über eine Lösung der griechischen Schuldenkrise zu beraten. Hinter den Kulissen wird Berichten zufolge ein Schuldenschnitt diskutiert. Deshalb steht Griechenland im Vorfeld des Gipfels unter besonderer Beobachtung. Im Laufe der Woche wird die Troika ihren Abschlussbericht für die Auszahlung der Tranche vorlegen. Auf dessen Grundlage entscheiden die EU-Finanzminister über die Freigabe des Geldes.

Medienberichten zufolge geht Horst Reichenbach, Leiter der EU-Taskforce für Griechenland, davon aus, dass die nächste Hilfstranche ausgezahlt wird. Reichenbachs Taskforce unterstützt Griechenland bei der Umsetzung der Spar- und Reformprogramme. Zwar wollte er auf Anfrage im unmittelbaren Vorfeld des EU-Gipfels am Wochenende keine Stellungnahme abgeben. Aus seinem Büro hieß es allerdings, man mache "große Fortschritte".

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