Schiffsunglück in Südkorea:Auf den Grund gehen

Die Bergung der gesunkenen Passagierfähre "Sewol" wirft ein Schlaglicht auf das Versagen von Südkoreas Regierung und Behörden. Die seltsame Serie an Pannen reißt nicht ab.

Von Christoph Neidhart, Tokio

Wenn er sich vorstelle, welche Ängste sein Junge ausgestanden habe, wolle er nicht weiterleben, weint der Vater von Kang Seung-mook. "Ich hätte mein Kind retten können. Aber ich sagte ihm, er solle auf die Küstenwache hören. Hätte ich gesagt, klettere an Deck, dann wäre er noch am Leben." Als Kang um 9.43 Uhr übers Handy zuletzt mit Seung-mook sprach, hatte die Crew der Sewol die Fähre bereits im Stich gelassen und nur sich selber gerettet. Zuvor hatte sie den 325 Teenagern aus Ansan befohlen, an Bord zu bleiben, in der Kantine oder in den Kabinen. Die Kinder schickten Handy-Notrufe und Fotos aus der sinkenden Fähre. Aber gerettet wurden nur jene, die der Crew trotzten und an Deck kletterten. 250 Kinder und 54 Erwachsene kamen um, neun Leichen sind nie gefunden worden.

Vorige Woche begann die chinesische Firma "Shanghai Salvage" mit der Bergung der Fähre, die am 16. April 2014 vor Koreas Südwestküste unterging. Die meisten der 172 Überlebenden wurden von Fischern und Frachtern gerettet, die Küstenwache versagte völlig. Nun reißt die Bergung des 6825-Bruttoregistertonnen-Schiffs die Wunden, die das Unglück in Südkoreas Gesellschaft gerissen hat, wieder auf. "Die Wahrheit darf nicht mit der Sewol untergehen", verlangt Vater Kang im Dokumentarfilm "Die Tauchglocke". Sein Macher, Lee Sang-ho, bezichtigt die Regierung von Präsidentin Park Geun-hye der Lüge und Vertuschung. Den großen Medienanstalten wirft er vor, sie hätten bewusst Falschmeldungen verbreitet. Das zumindest hat Kim Si-gon, Nachrichten-Chef des öffentlich-rechtlichen Fernsehens KBS, inzwischen bestätigt. Er und fünf hochrangige Kollegen seien vom Sitz der Präsidentin aus angerufen worden, mit der strikten Anweisung, jede Kritik der Küstenwache zu unterdrücken.

Die Rettungstaucher waren bereit, aber die Küstenwache sagte: Das Wetter sei nicht sicher

Der Dokumentarfilmer Lee, der selbst für das öffentlich-rechtliche Fernsehen gearbeitet hatte, bis er 2013 entlassen wurde, weil er den vorauseilenden Gehorsam des Chefs seines Senders MBC öffentlich kritisiert hatte, eilte nach dem Unglück für Gobalnews.com, einen Internet-Fernsehsender, in den Hafen Paengmok, wo bereits die ersten Angehörige eintrafen. Die Agentur Yonhap hatte gemeldet, alle Passagiere seien gerettet worden. Aber Lee war der einzige Journalist vor Ort. "Keine Kamera, nur verzweifelte Angehörige", schimpft er. Später meldete KBS, 640 zivile und Militär-Taucher seien im Einsatz, Yonhap sprach von "Südkoreas größter Rettungsaktion mit 261 Schiffen und 35 Flugzeugen". In Lees Film widerspricht ein Taucher noch vor Ort dieser Darstellung: "Die Küstenwache sagt, das Wetter sei nicht sicher. Für uns wäre es gut genug, aber so standen wir nur untätig herum." Einige seien zwar doch noch mit einem Boot zum Wrack gefahren, "aber das war kaum mehr als eine symbolische Geste". Von den erwähnten 35 Flugzeugen hat in Paengmok niemand etwas gesehen.

Klarheit herrscht nur über die Ursachen der Katastrophe. Der Reeder hatte die Fähre mit Genehmigung der Behörden so umbauen lassen, dass sie nicht mehr stabil im Wasser lag. Die Crew überlud die Fähre um das Doppelte und machte Fracht und Lastfahrzeuge nicht richtig fest. Als die Sewol am Morgen schließlich zu krängen begann, lösten sich Teile der Fracht und verschlimmerten die Schieflage.

Einige Kinder sendeten noch Handyfotos aus Luftblasen im gesunkenen Wrack

Wenn große Schiffe sinken, bilden sich im Innern Luftblasen, in denen Eingesperrte überleben können. Für ihre Rettung gelten 72 Stunden als "goldenes Zeitfenster". Einige Kinder sandten noch Handy-Fotos aus solchen Luftblasen. Die Retter hätten sich deshalb beeilen müssen. Und sie hätten für die Bergung eine Tauchglocke gebraucht.

Lees Film zeigt, wie die Angehörigen im Dunkeln gelassen und belogen werden, und wie sie schließlich ein Treffen mit dem zuständigen Minister und dem Kommandanten der Küstenwache erzwingen. Er übertrug das Gespräch live, aber die Offiziellen hocken bloß verstockt da und lassen die Beschimpfungen der Eltern an sich abtropfen.

Im Mittelpunkt von Lees Film steht der erfahrene Tauchunternehmer Lee Jong-in, der über Südkoreas einzige Tauchglocke verfügt. Er eilte als Freiwilliger nach Paengmok, um zu helfen. Doch die Küstenwache schickte ihn weg. Als er auf Druck der Eltern doch zum Einsatz kommt, rammt ein Boot der Küstenwache seine Barke mit dem Kran, an dem die Tauchglocke hängt. Journalist Lee hält das für einen Mordversuch, er habe anonyme Warnungen erhalten. Sicher hat die Küstenwache die Arbeit mit der Tauchglocke sabotiert. Und den Medien dann gesagt, Lee habe die Rettung gestört. "Welche Ehre oder Reputation kann so wichtig sein?", fragt der Tauchunternehmer unter Tränen.

Niemand weiß, ob Lee mit der Tauchglocke hätte Kinder retten können. Er durfte es gar nicht versuchen, während Crew und Küstenwache ihre Pflicht vernachlässigten. Die Sewol sank über die Dauer von zwei Stunden, Zeit genug für die Kinder, an Deck zu klettern. Doch wie die Crew unterließ es auch Küstenwache, die Sewol zu evakuieren. Ihr Reeder hat sich mit Selbstmord der Verantwortung entzogen, ihr Kapitän wurde zu 36 Jahre Gefängnis verurteilt. Der Küstenwache-Kapitän, der die Sewol auch nicht evakuierte, erhielt vier Jahre wegen Pflichtvernachlässigung. Aber die Rolle der Regierung ist nie untersucht worden.

"Die Tauchglocke" sollte auf dem Filmfestival von Busan 2014 uraufgeführt werden. Suh Byung-soo, der Bürgermeister von Busan, versuchte das zu verhindern. "Damit hat er den Film erst bekannt gemacht", sagt Lees Co-Regisseur Ahn Hye-ryong. Das Festival zeigte ihn trotzdem. Nun droht die Stadt Busan, der Hauptsponsor, dem Festival für 2016 die Gelder zu streichen.

Präsidentin Park Geun-hye blieb am Unglückstag unsichtbar, in Seoul kursieren Gerüchte über ihren Verbleib, Journalisten, die diese weiterverbreiteten, wurden strafverfolgt. Eine plausible Erklärung blieb Park, die auch später kaum Mitgefühl oder Verständnis für die Opfer zeigte, den Koreanern schuldig. Ihre Regierung hat versucht, eine parlamentarische Untersuchung des Unglücks zu unterdrücken. Immerhin - das gelang nicht. Aber jetzt, kurz vor der Hebung des Wracks, ist der Untersuchungskommission das Geld ausgegangen. Das Budget sei aufgebraucht, heißt es.

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