Saul Friedländer im Gespräch:"Es gibt keinen Traum mehr"

Saul Friedländer

Holocaust-Überlebender und -Forscher: Saul Friedländer.

(Foto: Regina Schmeken)

Historiker und Holocaust-Überlebender Saul Friedländer gab den Opfern der Shoa ihre Stimme zurück. In diesem Interview von 2016 erzählt er, warum er Ernst Nolte nicht mochte und sich heute Sorgen um Deutschland macht.

Interview von Joachim Käppner und Ronen Steinke

Als Historiker des Holocaust hat Saul Friedländer den Opfern ihre Stimme zurückgegeben. Sein Werk "Das Dritte Reich und die Juden" verknüpfte Politik- mit Kultur- und Alltagsgeschichte der europäischen Juden. 1932 in Prag geboren, überlebte Friedländer den Völkermord versteckt in einem katholischen Internat in Frankreich. Nach dem Krieg lebte er in Israel und den USA. Bei C. H. Beck ist soeben seine Autobiografie "Wohin die Erinnerung führt" erschienen.

SZ: Herr Friedländer, Sie haben als Kind den Holocaust überlebt, Ihre Eltern wurden ermordet. Wie fühlen Sie sich, wenn Sie heute Deutschland besuchen?

Saul Friedländer: Ich habe viele Jahre gebraucht, bis ich mich in Deutschland etwas entspannen konnte. Ich bin jetzt knapp 84 Jahre alt. Es ist mir fast gelungen.

Fast?

Ich hatte jahrelang unkontrollierbare Ängste. Nicht nur in Deutschland, aber hier besonders. Ich bin schon als junger Mann hier gewesen, um in den Sechzigerjahren für meine Doktorarbeit in Archiven in Bonn zu forschen. Ich wurde immer krank, wenn ich nach Deutschland kam. Erkältet, Fieber. Einmal, 1962, hat mich ein Arzt untersucht und gefragt: Ihre Eltern sind gesund? Da bin ich aus der Praxis gelaufen. Das war eine völlig normale Frage, aber ich konnte ihm nicht sagen: Meine Eltern sind hier ermordet worden.

Wodurch hat dieses Gefühl nachgelassen?

Meine Familie waren Prager Juden, unsere Sprache war Deutsch. Das erste Lied, das ich je auf dem Klavier gespielt habe - und das letzte, zum Glück -, war "Ich hatt' einen Kameraden". Die Vertrautheit mit Deutschland ist mit den Jahren wieder gewachsen.

Allerdings haben deutsche Historikerkollegen Sie gelegentlich gern an Ihre Familiengeschichte erinnert.

Ja, Martin Broszat, der langjährige Leiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, hat deshalb einmal an meiner Fähigkeit zum objektiven wissenschaftlichen Urteil gezweifelt. Er sprach von der mythologischen Erinnerung der Opfer und ihrer Nachkommen. Da musste ich ihm sagen: Wäre dann nicht auch er, der in der Hitlerjugend war, biografisch verwickelt? Er war sogar in der NSDAP, aber das kam erst nach seinem Tod heraus.

Sie haben auch Ernst Nolte kennengelernt, den kürzlich verstorbenen Wortführer der Rechtskonservativen im Historikerstreit der Achtzigerjahre.

Oh, ja, ich war sogar bei ihm zum Essen eingeladen. In unserem Gespräch gewann ich ein Bild von Nolte, das die Leute während des Historikerstreits nicht bemerkt haben. Er fragte mich, ob nicht das "Weltjudentum" Deutschland 1939 den Krieg erklärt hatte und berief sich auf rechtsradikale Literatur über die Juden. Ich habe dann bald ein Taxi genommen.

Nolte hatte viele Anhänger, ist dieser Geist in der deutschen Historikerschaft noch lebendig?

Nein, das ist heute zum Glück Geschichte. Überhaupt hat mein Gefühl der Beklommenheit, wenn ich Deutschland besuche, stark abgenommen, obwohl ich mit Sorge sehe, was hier politisch passiert.

Was macht Ihnen in Deutschland Sorge?

Ich habe große Sympathie für Frau Merkel, weil sie Mut bewiesen hat mit ihrer Politik der Offenheit für Flüchtlinge. Aber jetzt erleben wir die politische Gegenbewegung, den Aufschwung der Rechten in Gestalt der AfD, wie zuvor auch schon in Polen, in Ungarn, in Frankreich mit Marine Le Pen oder jetzt in Amerika mit Donald Trump.

Wie erklären Sie sich dieses Comeback des Nationalismus in der westlichen Welt?

Xenophobie ist ein starkes Element. Die Mengen von Migranten aus muslimischen Ländern geben der Bevölkerung den Eindruck, dass sie bedroht sei. Nicht so sehr physisch oder im Hinblick auf ihre Arbeitsplätze, sondern in ihrer Identität. Was es gibt, ist die Angst vor einer Außenwelt, die hereinbrechen und die Innenwelt für immer verändern könnte.

Die Demokratien waren noch nie so freiheitlich wie heute und sind doch voller Zweifel an sich selbst.

Insgesamt haben wir den Rückschlag, den wir jetzt erleben, noch zu wenig analysiert. Natürlich ist der islamistische Terror eine immense Herausforderung für freie Gesellschaften und hat zu dieser Verhärtung beigetragen. Ich war kürzlich in Paris, als die Polizei den Boulevard Saint-Germain gesperrt hat, sie befürchtete einen neuen Anschlag. Das war beängstigend, und das Gefühl der Bedrohung bleibt nicht ohne Folgen. Die entscheidende Frage ist: Wie kann sich eine freie Gesellschaft gegen Feinde schützen? Wenn sie beim Versuch, sich zu schützen, die eigenen Freiheitsrechte schwächt, verliert sie ihren Charakter und wird dem Gegner ähnlicher.

Die Demokratien erleben eine Sinnkrise, obwohl es, anders als im Kalten Krieg, keine Systemalternative mehr gibt.

Richtig. Das ist ein Merkmal unserer Zeit. Es gibt keinen Traum mehr von einer besseren Welt. Das war früher anders. Ich selber habe den Traum vom Kommunismus mitgeträumt, aber nur drei Monate lang.

Was hat sie so schnell umgestimmt?

Das war in den frühen Fünfzigerjahren, in Paris. Ich war sehr schüchtern. Wenn ich auf der Straße die Parteizeitung L'Humanité verkaufen musste, ging ich verlegen umher, als handele es sich um pornografische Hefte . . . Damals hat man geträumt. Heute hat die liberale Gesellschaft so viel erreicht und erlebt doch den Rückschlag.

Kann die Erinnerung an die schlimmsten Auswüchse des deutschen Nationalismus helfen, diesem neuen Nationalismus entgegenzuwirken?

Vorsicht. Das kann funktionieren. Es kann aber auch das Gegenteil geschehen. Es gab noch nie eine so weit rechts stehende Regierung in Israel wie heute. Die Berufung auf Lehren aus der Schoah gehört für sie zum Standardrepertoire.

"Nie wieder" heißt in Israel: Nie wieder schwach sein.

Mich stört, dass das Gedenken an die Opfer für eine bestimmte Politik instrumentalisiert wird. Die Lehre aus der Schoah ist nicht, allein auf Stärke und Macht zu setzen. Die Sehnsucht nach Stärke kann sehr schnell gefährlich werden. Vor ein paar Jahren sind bei einer Zeremonie in Auschwitz drei Flieger der israelischen Luftwaffe über das Gelände gedonnert. Das war mir widerwärtig.

Aber die Intention war ja nicht, Leuten Angst zu machen. Sondern Leuten Angst zu nehmen.

Das stimmt schon. Das Signal war: Es gab nur einmal Auschwitz. Es wird nie wieder kommen, weil es jetzt einen wehrhaften Staat Israel gibt. Eine Beruhigung. Das ist auch richtig, das Land muss sich verteidigen können, aber man muss daraus nicht so eine Schau machen. Die heutige israelische Regierung macht das oft. Schon der erste rechte Premierminister Israels, Menachem Begin, hat 1977 damit angefangen. Arafat sei der neue Hitler. Der heutige Premier Benjamin Netanjahu ist viel gerissener, als es Begin je war.

Sie kannten seinen Vater, den Historiker Benzion Netanjahu.

Er vertrat ziemlich extreme Positionen. Der Sohn ist vom Vater beeinflusst. Benjamin Netanjahu glaubt wirklich, dass die Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten Stück für Stück zum Ziel führt: dass die Palästinenser ihren Traum vergessen können, einen eigenen Staat zu gründen. Weil auf dem Gebiet zu viele israelische Siedlungen stehen. Was also bedeutet das? Entweder man wird die Palästinenser integrieren müssen, in einen binationalen Staat mit Bürgerrechten für beide. Das war sogar einmal ein schöner Traum linker Zionisten - sie stellten sich vor, wie man dann in Frieden lebt, in einer kulturellen Synthese . . . nun ja, das wird nicht der Fall sein. Vielmehr würde es für jüdische Israelis ungemütlich, wenn sie in absehbarer Zeit zur Minderheit in diesem Staat werden. Und die andere Möglichkeit? Apartheid. Ich sehe logisch keinen dritten Weg.

Welches der beiden Szenarien wäre aus Ihrer Sicht die größere Katastrophe?

Ich fühle mich Israel sehr verbunden. Aber wenn es irgendwann zu einem Apartheid-System käme, würde ich meinen Freunden raten, nicht mehr dorthin zu fahren.

Sind Sie dagegen, dass überhaupt politisch mit der Schoah argumentiert wird?

Nein. Die Lehren sind Humanität, Toleranz. Das ist meine Antwort. Das ist die einzige Lektion: uns menschlich zu verhalten.

In Ihrer Autobiografie schildern Sie Ihre Unfähigkeit, sich emotional berühren zu lassen nach den Traumata ihrer Kindheit. Wie "ein Insekt, dem man die Fühler ausgerissen hat". War es für Sie hilfreich, sich mit der Schoah beruflich zu befassen?

Ich war viele Jahre seelisch gepanzert. Alles war mir egal. In den Fünfzigerjahren lebte ich in Paris. Aber ich habe nicht die Orte der Vergangenheit aufgesucht. Ich hatte einen Koffer mit meinen Sachen. Ich war ein Luftmensch. Aber dann lernte ich meine erste Frau kennen, wir sprachen vom Heiraten . . .

. . . und der Panzer brach auf?

Oh nein. Dann bin ich krank geworden. All die Ängste und Sorgen brachen über mich herein. Ein normales Leben führen? Das war mir zu viel.

Ist das bis heute so?

Glücklicherweise nicht. Heute kann ich es. Es dauerte lange, viele Jahre. Erst durch die drei Kinder habe ich meine Gefühle langsam wiederentdeckt. Als mir ein Baby auf den Schultern saß, habe ich begonnen, wieder zu fühlen. Viele Überlebende der Schoah sprechen von diesen Symptomen.

Sie haben schon früh begonnen, sich bewusst mit dem Nationalsozialismus zu beschäftigen.

In den Sechzigerjahren schrieb ich in Genf meine Doktorarbeit über die Rolle Amerikas in der Strategie des NS-Staates. Ich habe über Akten und objektive Fakten geforscht - aber nicht über meine eigene Geschichte. Nur 30 Kilometer von Genf liegt der Ort Saint-Gingolph, wo meine Eltern 1942 verhaftet wurden. Es ist mir gar nicht aufgefallen, wie merkwürdig es war, dass ich niemals an diesen Ort gefahren bin.

Wie erklären Sie sich das heute?

Teile meiner Psyche haben unbewusst auf die Vergangenheit reagiert. Es war nicht so, dass ich nicht gewollt hätte. Aber es war wie eine Schutzwand, ich kam einfach nicht auf den Gedanken.

Was tun Sie heute gegen düstere Gedanken?

Ich beschäftige mich. Wie Voltaires pessimistischer Held Candide, der am Ende die Worte spricht: "Gut gesagt, aber unser Garten muss bestellt werden." Tatsächlich sitze ich gern mit meiner Frau im Garten; für schlechte Tage halte ich einen guten Whiskey bereit.

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