Sarrazins Rücktritt:Beginn einer Lesereise, Ende einer Karriere

Mitten in Thilo Sarrazins Auftritt in Potsdam platzt die Nachricht von seinem freiwilligen Rückzug aus dem Bundesbankvorstand. Der streitbare Politiker äußert sich dazu erst spät.

Thorsten Denkler, Potsdam

Hendrik Röder wusste also auch von nichts. Der Mann ist Mitarbeiter im Literaturbüro Brandenburg. Seine Aufgabe ist es an diesem Donnerstagabend in Potsdam, eine kurze Einführung zu geben zu dieser sehr speziellen Buchvorstellung mit Thilo Sarrazin und dessen umstrittenem Werk Deutschland schafft sich ab.

Protesters hold up placards showing the portrait of German central bank executive Thilo Sarrazin before a public reading to present his book 'Deutschland schafft sich ab' in Potsdam

Die Trillerpfeifen ertönten auch noch Stunden nach Beginn der Buchvorstellung. Die Polizei musste die Demonstranten in Potsdam in Schach halten.

(Foto: REUTERS)

Schnell wird klar, dass Röder eher zu denen gehört, die viel Verständnis für den Mann haben, dessen Thesen zur Integrationspolitik gerade die Republik in Wallung bringen. "Welchen Wert hat die Meinungsfreiheit", fragt Röder von der Bühne herunter, "wenn jemand auf höchste Order seinen Job zu verlieren droht?"

Sarrazin sitzt daneben im schwarzledernen Sessel und verzieht keine Miene. Fast zeitgleich wird in Frankfurt verkündet, der Volkswirt gebe sein Amt als Bundesbank-Vorstand freiwillig auf. Mit weitreichenden Folgen. Unter anderem muss Bundespräsident Christian Wulff jetzt keine Entscheidung mehr treffen über Sarrazins Zukunft in der Bank.

Wachleute überall

Wie ein Volkstribun wird der schreibende Provokateur empfangen. Einige stehen auf, um ihm zuzujubeln. Applaus hallt durch den Nikolaisaal. Für einen Märtyrer halten sie ihn offensichtlich, für einen, der ausspricht, was hier die meisten denken und dafür seine Reputation aufs Spiel setzt. Deutschland, so seine These, laufe Gefahr, sich zu marginalisieren, weil zu viele dumme Menschen, vornehmlich aus islamischen Herkunftsländern, zu viele dumme Kinder bekämen.

Sarrazin genießt den Applaus. Es ist der Auftakt zu einer Lesereise durch das Land. Wer ihn einlädt, muss mit einigem rechnen. Vor der Tür sichern Dutzende Polizisten die Straße und halten die Anti-Sarrazin-Demonstranten in Schach. Wachleute stehen am Eingang zum Gebäude, am Eingang zum Foyer, an den Eingängen zum Saal. Überall wird kontrolliert.

Wer Karten hat, wird von den Demonstranten angepöbelt. "Nazis raus", rufen sie. Trillerpfeifen klingen noch Stunden nach Beginn der Buchvorstellung. Im Saal macht sich Sarrazin derweil lustig über ARD-Mann Reinhold Beckmann, der vergeblich versucht habe, ihn in seiner Sendung zu "grillen". Das Publikum lacht mit.

Interviewt wird der Gast vom Politikchef der Märkischen Allgemeinen Zeitung, Ralf Schule. Der fragt an einer Stelle - offenbar auch noch unwissend: "Die Anfeindungen, das Parteiordnungsverfahren der SPD, der drohende Rauswurf aus der Bundesbank: War es das alles wert?"

Sarrazin ziert sich

Hier hätte Sarrazin sagen können, dass er die Bundesbank ja nun verlassen werde. Er tut es nicht. Stattdessen zitiert er Umfragen, in denen er zu mehr als 90 Prozent Zustimmung erfährt, berichtet von Aktenordnern voll mit Zuschriften an ihn, in denen Bürger ihn unterstützen. Selbst unter SPD-Mitgliedern sei das Bild nicht klar. 40 Prozent seien gegen ihn, 40 Prozent für ihn, 20 Prozent unentschieden.

Nach eineinhalb Stunden lüftet er das Geheimnis. Er ziert sich erst, will die Meldungen sehen, die längst über den Ticker laufen. Dann bekennt er doch: "Ich habe den Bundespräsidenten gebeten, mich mit dem 30. September von meinem Amt zu entbinden." Er habe "massiven Druck" gespürt und sich gefragt, ob er sich "mit der gesamten politischen Klasse in Deutschland anlegen" wolle: "Diese Situation hält auf Dauer keiner durch." Wichtig sei aber: Zuvor habe der Vorstand der Bundesbank den Vorwurf zurückgezogen, er habe Ausländer beleidigt.

Dafür gibt es wieder Applaus. Der Held ist rehabilitiert.

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