Russlands Rolle im Ukraine-Konflikt:Entscheidung zur Eskalation

Vladimir Putin

Präsident Putin (Mitte) mit hohen Offizieren bei einem Treffen in Sotschi.

(Foto: AP)

Ein Jahr nach Beginn des Maidan-Aufstands ist klar: Russlands Präsident Putin hat den Krieg in der Ukraine begonnen. Aber auch EU und USA haben Fehler gemacht.

Kommentar von Stefan Kornelius

Ein Jahr nach dem gescheiterten Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine bemühen sich nicht wenige in diesem Europa um Geschichtsschreibung und damit um Klarheit. Dazu gehört eine Antwort auf die zentrale Frage: Wer trägt Schuld am Krieg? Die Historisierung spiegelt den Wunsch nach einem Abschluss des Konflikts, die Sehnsucht nach einer Normalität im Umgang mit Russland. Wenn die Schuldanteile gerecht verteilt wären und ein quasi höchstrichterliches Urteil gefällt würde, dann könnte man mit einem aufgeräumten Gewissen nach vorne schauen und am Frieden werkeln.

Das ist eine so hübsche wie weltfremde Vorstellung. Denn eine Wahrheitskommission in Sachen Ukraine kann es nicht geben, weil es in diesem Konflikt inzwischen mindestens zwei Geschichtsschreibungen gibt mit vielen sich widersprechenden Erzählungen, Deutungen, Herleitungen. Russlands Regierungslinie und die von den Regierungen des Westens mehrheitlich geteilte Sicht lassen sich gegenwärtig nicht versöhnen.

Als Angela Merkel im Frühsommer den russischen Präsidenten Wladimir Putin "in einer anderen Welt" vermutete, war dieser Bruch vollzogen. Die beiden in ihrem Argumentationsstil sehr ähnlichen Politiker hatten die Gesprächsbasis verloren. Dazu kamen die Lügen. Nimmermüde versuchen Putin und die russische Propaganda seitdem, den Schuldanteil des Westens am Konflikt zu erhöhen. Dass die Ukrainer als eigentliche Opfer der Aggression dabei wieder einmal nicht nach ihrer Meinung gefragt werden, ist das betrübliche Beiprodukt einer Machtarroganz, die nur in Einflusszonen denkt: Unterwerfung - oder eben den Krieg.

Die EU hätte fordernder sein müssen

Wahrlich: Die Europäische Union und die USA haben Fehler gemacht. Niemals hätte Präsident Barack Obama Russland öffentlich zur Regionalmacht degradieren dürfen. Die EU hätte ihre Verhandlungen um Assoziierung viel transparenter und fordernder gestalten müssen. Unterschätzt wurde, welch strategische Bedeutung diese ukrainische Entscheidung aus russischer Sicht haben würde. Russland hätte deswegen erheblich offensiver eingebunden werden müssen - schon um den guten Willen und den Wunsch nach wirtschaftlicher Kooperation auch mit Russland zu dokumentieren.

Hingegen gab es keinen Mangel an anderer Stelle: Russland wurde mehrfach die Kooperation zwischen Eurasischer Union und EU angeboten. Russland wurde schon vor einem Jahrzehnt eine Modernisierungspartnerschaft offeriert. Das Energiegewerbe versprach ein vorteilhaftes Geschäft auf Gegenseitigkeit. Der Nato-Russland-Rat, weit vor dem Beitritt der Mitteleuropäer zur Allianz gegründet, widmete sich den Sicherheitsbedenken. Die Zusammenarbeit in der Abrüstung gehört zu den glorreicheren Kapiteln dieser Phase der Annäherung.

Fehlte es also nur an Intensität? Fehlte es dem Westen an Klarheit? Wer im Wunsch nach Historisierung diese Fragen stellt, darf eine andere Perspektive nicht auslassen: Russlands Demokratie- und Staatsverständnis war 20 Jahre lang einem dramatischen Wandel ausgesetzt. Seit dem Zerfall der Sowjetunion sucht dieses gewaltige Land ein Ordnungssystem und scheint es nun - für wie lange auch immer - in der autoritären, zentralistischen "Vertikalen der Macht" gefunden zu haben, die Wladimir Putin einst proklamierte. Dieses Regierungsverständnis lässt sich mit den Vorstellungen des Westens von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht vereinbaren. Die Systeme funktionieren antipodisch.

Wie zwei abstoßende Magnetfelder

Es sind diese sich abstoßenden Magnetfelder, die den Krieg möglich gemacht haben. Die Entscheidung zur Eskalation aber hat nur einer getroffen: der russische Präsident. Er beantwortete den politischen Annäherungsprozess mit einem hybriden Krieg - nicht gegen die EU, denn die hatte ihren Assoziierungsprozess bereits verloren. Es war in diesem Augenblick, am 28. November 2013, das ukrainische Volk, das rebellierte, weil es sich um seine Hoffnungen betrogen sah. Es war die ukrainische Mehrheit, die sich gegen eine kleptokratische Oligarchie an der Spitze des Landes wandte - nicht gegen Russland übrigens.

Hier liegt der Kern einer historischen Deutung. Wer den Wunsch der Mehrheit der Ukrainer ignoriert und der EU eine kriegstreibende Rolle zuschreibt, der hat weder Europa noch die Mechanik des Westens verstanden. Nein, niemand hat das Interesse, Russland zu demütigen, seine Wirtschaft zu zerstören oder das Land in seiner strategischen und politischen Bedeutung kleinzureden. Russland ist Teil Europas. Es bleibt allein die Frage, welchen Charakter dieses Europa haben wird: den mit freiem - oder den mit verordnetem Willen.

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