Russland:Wieso ein russischer Schüler im Bundestag einen Wehrmacht-Soldaten betrauerte

Volkstrauertag 2017

Der Plenarsaal des Bundestages ist voll besetzt am Volkstrauertag. Die Rede eines Schülers aus Nowy Urengoi über den Zweiten Weltkrieg löst einen Skandal in Russland aus.

(Foto: Soeren Stache/picture alliance)
  • Ein 16-jähriger Schüler aus Russland hält bei der Gedenkstunde zum Volkstrauertag im Bundestag eine verhängnisvolle Rede.
  • Er hat bei einem deutsch-russischen Schülerprojekt das Schicksal deutscher Kriegsgefangener recherchiert und bezeichnet ihren Tod als "unschuldig".
  • Eine Spurensuche führt zu einem nationalistischen Blogger, nach Nowy Urengoi, zu einem Gedenkverein und über Kassel zu der Firma, die das Schülerprojekt sponsert.
  • Doch wie der Satz in die Rede kam, lässt sich nicht abschließend klären.

Von Julian Hans, Moskau/Kassel

Es sagt viel aus über das Verhältnis zweier Staaten, wenn schon die unglückliche Formulierung eines Schülers zu einer Krise führen kann. Die Zutaten für den Skandal, den der Auftritt eines 16-jährigen Russen im Bundestag in seiner Heimat auslöst: viel gute Absicht, ein kleiner Fehler, etwas böse Absicht und ein Portion Feigheit.

Das Ereignis, das so große Aufregung auslösen wird, verläuft würdevoll. Der 19. November ist ein Sonntag. Der Plenarsaal im Reichstagsgebäude ist voll und festlich geschmückt. Abgeordnete in dunklen Anzügen, Offiziere haben ihre Ausgehuniformen gebügelt, ein Bläser-Ensemble spielt feierliche Weisen. Die ARD überträgt die Gedenkstunde zum Volkstrauertag live, alles scheint wie jedes Jahr zu sein.

Wolfgang Schneiderhan begrüßt die Gäste, er war Generalinspekteur der Bundeswehr, seit diesem Jahr ist er Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge und Gastgeber der Gedenkfeier, der Bundestag stellt die Räume zur Verfügung.

Dann tritt ein schmächtiger Junge ans Mikrofon. Nikolaj Desjatnitschenko, 16 Jahre alt, Schüler der Schule Nummer 1 in Nowy Urengoi am Polarkreis. Die Aufregung ist ihm anzumerken, als er auf Russisch vom Schicksal des Wehrmacht-Soldaten Georg Johann Rau berichtet, geboren 1922 in Sigmaringen, in Stalingrad in Gefangenschaft geraten und 1943 in einem Lager für Kriegsgefangene gestorben. Der Besuch eines Friedhofs für deutsche Kriegsopfer in Sibirien habe ihn bewegt, sagt Desjatnischenko: "Ich sah die Gräber unschuldig ums Leben gekommener Menschen, unter denen viele in Frieden leben und nicht kämpfen wollten."

In der ersten Reihe sitzen der Bundespräsident, der Bundestagspräsident, der Präsident des Bundesrats, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts und die Verteidigungsministerin. Hinterher werden viele sagen, diese Formulierung sei unpassend. "Unschuldig ums Leben gekommene Menschen" für Angehörige einer Armee, die die Sowjetunion überfallen hat, um sie auszurauben und ihre Menschen zu versklaven. Aber zunächst fällt niemandem etwas auf.

Im Wechsel mit Schülern aus Nowy Urengoi sprechen auch Schüler des Friedrichsgymnasiums in Kassel über das Schicksal sowjetischer Kriegstoter. Ein Jahr lang haben sie an einem gemeinsamen Projekt gearbeitet: Die Deutschen recherchierten über russische Kriegsgefangene, die in Deutschland starben, die Russen über deutsche Soldaten, die in russischer Gefangenschaft umkamen. Seit vielen Jahren veranstaltet der Volksbund solche Biografiearbeit. Sie soll Jugendlichen die Folgen von Krieg vor Augen führen. Nikolaj Desjatnitschenko beendet seine kurze Rede mit einem Appell für den Frieden: "Ich hoffe aufrichtig, dass auf der gesamten Welt der gesunde Menschenverstand siegt und die Welt niemals wieder Kriege erlebt."

Nikolajs Heimatstadt bildet einen Krisenstab

Im Saal sitzt auch Wladimir Popow, im russischen Verteidigungsministerium verantwortlich für das Andenken an die gefallenen Soldaten. Der Generalmajor ist der ranghöchste Partner des Volksbunds bei der Zusammenarbeit. Popow hört die Reden, anschließend kommt er auf Schneiderhan zu und verabschiedet sich freundlich. Mit keinem Wort erwähnt er, dass ihm etwas nicht gefallen haben könnte.

Doch als die Schüler aus Nowy Urengoi am nächsten Tag in ihre Heimat am nördlichen Ural zurückfliegen, landen sie in einem Sturm. Nikolaj habe die Faschisten um Vergebung gebeten und vergessen, dass es die Sowjetunion war, die Europa befreit hat, heißt es. Die Wut kocht so hoch, dass Nikolaj und die Schule von der Außenwelt abgeschirmt werden. Die Stadt bildet einen Krisenstab.

Der Mann, der die Empörungswelle in Gang gebracht hat, heißt Sergej Koljasnikow. Der 38-jährige Klimatechniker aus Jekaterinburg am Ural hat seine Berufung darin gefunden, in einem Blog mit dem Titel "Der alte Soldat" der "amerikanisch-europäischen Propaganda-Maschine" etwas entgegenzusetzen. Seit Mai schreibt er eine Kolumne für die staatliche Nachrichtenagentur Ria Novosti.

Am Montag nach der Gedenkfeier schickt Koljasnikow eine Eingabe an die Generalstaatsanwaltschaft, den Geheimdienst FSB und an den Kreml und veröffentlicht sie auf seinem Blog. Der "minderjährige Scheißkerl" aus Nowy Urengoi habe im Namen Russlands um Vergebung gebeten für den Tod eines Hitler-Schergen. Das ist das Stichwort, auf das alle russischen Medien anspringen, auch das staatliche Fernsehen steigt ein. Dass Koljasnikow selbst 2007 verurteilt wurde, weil er mit NS-Uniformen und -Abzeichen handelte, geht im Empörungslärm unter. Der Blog des Nationalisten hat den Ton vorgegeben und die Agenda gesetzt: Um Russland zu erniedrigen und Deutschland von Schuld reinzuwaschen, hätten deutsche Stiftungen das Projekt finanziert und der Volksbund die Rede manipuliert.

In einer ersten Fassung der Rede fehlt der Satz

Am Dienstag nach der Gedenkfeier versucht Wladimir Putins Sprecher, die Hysterie zu dämpfen: Die "übertriebene Hetzjagd" sei unverständlich. Der Schüler habe nichts Böses im Sinn gehabt und sei offenbar nur sehr aufgeregt gewesen. "Ihm eine böse Absicht oder sogar die Verteidigung des Nazismus vorzuwerfen, sei ungerecht." In Berlin ist Wolfgang Schneiderhan für einen Moment erleichtert. "Ich dachte, jetzt hört das auf. Es hörte aber nicht auf. Meine erste Sorge galt dem Jungen und seiner Familie. Wenn man sich über mich so aufregen würde, hätte ich noch Verständnis. Aber bei einem Jugendlichen!" Es hört nicht auf, es kommt in immer neuen Wellen.

Wer Nikolaj sprechen will, muss einen schriftlichen Antrag beim Krisenstab stellen. Nach zwei Wochen die Absage: Ein Treffen mit den Medien sei "zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zielführend".

Derweil führt das russische Staatsfernsehen den Schüler vor. Nikolaj wird zu Hause gefilmt, vor einer Nachbildung der Fahne, die die Rote Armee 1945 auf dem Reichstag hisste. Nikolaj habe ursprünglich etwas ganz anderes sagen wollen, von seinem Urgroßvater erzählen, der im Krieg gekämpft habe, sagt seine Mutter. Aber der Text sei in Deutschland überarbeitet worden.

Einen Monat nach der Gedenkfeier trifft es plötzlich die Friedrich-Ebert-Stiftung. Ein Abgeordneter der Kreml-Partei Einiges Russland fordert, die SPD-nahe Stiftung zur "unerwünschten Organisation" zu erklären und aus dem Land zu werfen. Er kenne weder die Schule geschweige denn habe er etwas mit der Organisation des Projekts zu tun gehabt, beteuert deren Leiter Mirko Hempel in Moskau.

Es bleibt die Frage, wie die Formulierung von den "unschuldig ums Leben gekommenen Menschen" in Nikolajs Rede kam. Der Süddeutschen Zeitung liegt eine erste Fassung der Rede vom September vor. Der Ton ist noch mitfühlender als die Endfassung, aber der Satz von den "Unschuldigen" fehlt.

Spurensuche beim Volksbund und in Kassel

Es gibt Leute, die aufklären könnten, die dabei waren. "Mir ist nichts aufgefallen", gibt Wolfgang Schneiderhan zu. Der Volksbund habe Materialien für die Schulen bereitgestellt, aber nicht an den Texten gearbeitet. "Die Verkürzung kommt nicht vom Volksbund." Dennoch schreibt er an den russischen Botschafter Wladimir Grinin und bittet um ein Treffen. Am selben Tag veröffentlicht der Volksbund eine Mitteilung auf Deutsch und Russisch: "Der Volksbund benennt in seinem Leitbild den Zweiten Weltkrieg klar als Angriffs- und Vernichtungskrieg des nationalsozialistischen Deutschlands." Das Missverständnis sei durch eine falsch vorgenommene Verkürzung entstanden.

Spurensuche in Kassel. Hier ist die Zentrale des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Er betreut heute 833 Kriegsgräberstätten in 46 Staaten mit 2,7 Millionen Toten. Im Keller eines grauen Verwaltungsbaus reihen sich meterweise vergilbte Akten und Karteikästen. Selbst heute, mehr als 70 Jahre nach dem Krieg, fragen jedes Jahr noch 30 000 Hinterbliebene nach dem Verbleib ihrer Verwandten. Gerade hat der Volksbund 25 Jahre deutsch-russisches Kriegsgräberabkommen gefeiert. 900 000 Tote wurden in dieser Zeit in würdige Gräber umgebettet dank der guten Zusammenarbeit.

Der Volksbund steckt mitten in einem Wandlungsprozess. Aus einem Verband von Witwen und Veteranen soll eine Organisation zur Versöhnung werden. Deutschland habe einen Wandel durchgemacht, sagt Schneiderhan: "von der Heldenverehrung hin zur Versöhnungsarbeit." Das sei möglich gewesen, weil Deutsche eine doppelte Aussöhnung erlebten, "nach dem Krieg in die Staatengemeinschaft wieder aufgenommen worden zu sein". Und dann die innere Aussöhnung nach der Wende: Plötzlich war der General Schneiderhan Vorgesetzter von Volksarmee-Offizieren, die in ihrer Ausbildung gelernt hatten, dass die Bundeswehr der Feind ist: "Diese Aussöhnungserfahrung ist ein Pfund, mit dem Deutschland mehr wuchern müsste." Umso bitterer, dass die gemeinsame Veranstaltung mit Russen und Deutschen dieses Nachspiel hatte.

Nach neun Jahren stellt Wintershall die Förderung des Austauschs ein

In Kassel steht auch das Friedrichsgymnasium. Das altsprachliche Traditionsgymnasium atmet humanistische Bürgerlichkeit, auf dem Schreibtisch des Direktors steht eine Büste der Athene. "Die Texte der russischen Teilnehmer kannten wir vorher nicht", sagt Lothar Schöppner. Nach dem Auftritt brach auch am Friedrichsgymnasium der Ausnahmezustand aus. Russische Medien riefen bei Schülern daheim an. Zudem sorgt sich das Kollegium um Nikolajs Deutschlehrerin Ludmilla Kononenko. Der Kontakt ist abgebrochen.

In Kassel steht auch die Konzernzentrale von Wintershall. Die BASF-Tochter ist ein wichtiger Steuerzahler in der Stadt und ein wichtiger Spieler im Energiegeschäft mit Russland. 2003 schließt Wintershall mit der russischen Gazprom das Joint Venture Achimgaz, das in Nowy Urengoi Erdgas produziert. Zwei Jahre später geht Kassel eine Städtekooperation mit Nowy Urengoi am Polarkreis ein. Für eine Schulpartnerschaft wird das angesehenste Gymnasium am Ort angesprochen. Über neun Jahre besuchen sich die Schüler gegenseitig, wohnen in Gastfamilien, rudern auf der Fulda, besuchen Gasförderstätten im Eis.

Bis Wintershall 2016 die Förderung einstellt. Der Konzern unterstützt lieber das Schülerforschungszentrum Nordhessen. Das passt besser zu Gazprom, das auch Naturwissenschaften in Schulen fördert.

Als der Volksbund 2016 eine deutsch-russische Schulpartnerschaft für die Gedenkfeier im Bundestag sucht, wird der Austausch noch einmal wiederbelebt. Natalia Dianova nimmt es in die Hand, eine Mitarbeiterin in der Öffentlichkeitsarbeit von Wintershall, deren Muttersprache Russisch ist; sie hat schon frühere Reisen begleitet. Seit dem Spätsommer gehen mehrmals Entwürfe der Reden der russischen Schüler zwischen der Deutschlehrerin Kononenko und Dianova hin und her. Die Texte müssen kurz und prägnant sein, jeder hat nur zweieinhalb Minuten für seinen Vortrag.

Die Wintershall-Mitarbeiterin ist auch dabei, als die Schüler nach Berlin reisen. Von acht Uhr früh proben sie den Samstag über ihren Auftritt im Reichstagsgebäude. Die Gäste tragen ihre Texte auf Russisch vor, gemeinsam mit Kononenko coacht sie die Schüler. Drei Tage vor der Veranstaltung kündigt Wintershall im Internet die Feier zum Volkstrauertag an. Wintershall fördere den Austausch, heißt es da.

Als die Katastrophe losbricht, könnte Wintershall zur Aufklärung beitragen, den Schüler und seine Schule entlasten. Doch auf Anfrage schreibt eine Sprecherin, Wintershall habe mit dem Projekt "nichts zu tun". Ein Besuch der SZ in der Konzernzentrale wird kurzfristig abgesagt.

"Wird noch einmal eine Schule in Russland mit uns kooperieren?"

Als die SZ das Unternehmen schriftlich damit konfrontiert, dass die Redetexte durch die Hände einer Mitarbeiterin gegangen waren, erklärt Konzernsprecher Michael Sasse, Wintershall habe "die Aktivitäten auf Bitte des Volksbundes und der Schulen an einigen Stellen begleitet" und die Reden lediglich "bei biografischen Daten" korrigiert. Statt öffentlich aufzutreten versuche man lieber, im Stillen zu wirken. Die Verantwortung liege überdies allein beim Volksbund. Angehängt ist ein Brief von Matthias Platzeck an den Jungen, in dem der frühere SPD-Chef und Vorsitzende des deutsch-russischen Forums dessen Einsatz für Verständigung lobt.

Eine Untersuchungskommission in Nowy Urengoi hat inzwischen empfohlen, der Direktorin der Schule einen Verweis auszusprechen und Frau Kononenko zu entlassen. Die Deutschlehrerin habe das Projekt eigenmächtig betrieben und die Texte nicht vorschriftsgemäß bei der zuständigen Behörde genehmigen lassen.

Wie der folgenreiche Satz in die Rede kam, ist bis jetzt nicht geklärt. Hat Nikolaj ihn selbst formuliert? Seine Lehrerin? Oder Frau Dianova? Niemand von ihnen ist Historiker, es wäre ein verzeihbarer Fehler. Wintershall hätte zur Aufklärung beitragen können, stattdessen war vier Wochen Schweigen.

Am Friedrichsgymnasium fragen sich alle mit Sorge: "Kann es noch einmal einen Austausch geben? Wird noch einmal eine Schule in Russland mit uns kooperieren?"

"Wer macht denn jetzt noch mit bei solchen Projekten, wenn hinterher solche Konsequenzen drohen?", fragt sich auch Schneiderhan: "Die Reaktionen zeigen, dass unsere Arbeit noch nicht zu Ende ist. Ich würde sagen: jetzt erst recht."

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