Russland und der Westen:"Das ist keine Ignoranz, das ist bewusste Politik"

Russland und der Westen: Ein Arbeiter vor einer Kunstinstallation in Moskau zum 75. Jahrestag des Siegs über Nazi-Deutschland.

Ein Arbeiter vor einer Kunstinstallation in Moskau zum 75. Jahrestag des Siegs über Nazi-Deutschland.

(Foto: AFP)

Der russische Historiker Alexey Miller erklärt, warum der Westen bis heute Russlands Anteil am Sieg über Nazi-Deutschland kleinredet. Und warum das die russische Seele so sehr verletzt.

Interview von Silke Bigalke, Moskau

In Russland feiern die Menschen den Sieg über Nazideutschland nicht am 8. Mai, sondern einen Tag später. Die bedingungslose Kapitulation wurde in Berlin 1945 erst unterzeichnet, als es in Moskau bereits nach Mitternacht war. Die Siegesfeier am 9. Mai ist für den Kreml ein politisches Werkzeug. Präsident Wladimir Putin inszeniert sich als Verteidiger der Erinnerung an den sowjetischen Sieg, der Geschichtsstreit gibt ihm dazu neue Gelegenheit. Alexey Miller, Direktor des Forschungszentrums für kulturelles Gedächtnis und symbolische Politik an der Europäischen Universität Sankt Petersburg, sagt aber, es sei wichtig zu fragen, wie wir an diesen Punkt gekommen sind.

SZ: Warum ist die Erinnerung an den Sieg im Zweiten Weltkrieg für Russland so viel wichtiger als in den USA, Frankreich oder Großbritannien?

Alexey Miller

Alexey Miller, Direktor des Forschungszentrums für kulturelles Gedächtnis und symbolische Politik an der Europäischen Universität Sankt Petersburg

(Foto: Denis Kaminev; privat)

Alexey Miller: Wenn man die Zahl der Kriegsopfer vergleicht, versteht man, dass es einen großen Unterschied gibt. Das Leid, das die Nazi-Invasion der Sowjetunion brachte, war immens. Aber es gibt einen weiteren Grund: Der Sieg spielt heute die Rolle des Gründungsmythos für die russische Gesellschaft, das ist extrem wichtig. In den Republiken der Russischen Föderation gibt es viele ethnische Gruppen, die sonst alle unterschiedliche Erinnerungen haben. Aber am 9. Mai können alle zusammenkommen und den Sieg feiern.

Was meinen Sie mit Gründungsmythos?

Jedes Land hat eine Art Mythos, der zentral ist für seine Erinnerung. Für die Vereinigten Staaten ist das wahrscheinlich die Unabhängigkeit von Großbritannien, für Frankreich vielleicht die Revolution und so weiter. Für die Sowjetunion war es auch die Revolution von 1917, aber für das heutige Russland spielt sie keine Rolle mehr. Das einzige Ereignis, das als Gründungsmythos funktioniert, ist der Große Vaterländische Krieg und der Sieg.

Teilen Sie den Vorwurf, dass Europa Russlands Beitrag zum Ende des Zweiten Weltkriegs nicht anerkennt?

Ja, das sehe ich so. Wichtiger ist, dass es die russische Gesellschaft generell so sieht. Es gibt ein orchestriertes Bestreben in Europa, Russlands Beitrag zum Sieg zu marginalisieren. Das folgt einer Linie, die von EU-Mitgliedern wie Polen und den baltischen Staaten vorgegeben wird. Das ist keine Ignoranz, das ist bewusste Politik. Ich denke, für unsere Beziehung mit Westeuropa wird das noch von großer Wichtigkeit.

Putin wirft dem Westen bei jeder Gelegenheit vor, Russland schlecht zu machen.

Das stimmt einerseits. Anderseits muss man auch berücksichtigen, dass hier wirklich wichtige Dinge auf dem Spiel stehen. Im 20. Jahrhundert galt das Naziregime als das absolut Böse und der Holocaust als das absolute Verbrechen, das war das Narrativ. Jetzt haben wir ein neues Narrativ, das suggeriert, dass es zwei absolute Übel gab, die Nazis und das Sowjetregime. Die Rolle der Sowjetunion als Land, das den Holocaust aufgehalten hat, ist nicht mehr gültig. Das ist eine große Frage symbolischen Kapitals.

Wie wirkt sich das aus?

Was geschieht ist eine Art Ethnisierung von Opfern, und eine Russifizierung von Tätern. Ein Beispiel: Wenn man die Vergewaltigungen deutscher Frauen zu Kriegszeiten beschreibt, dann wurden die von Sowjets oder von Russen begangen. Wenn es um die Befreiung von Auschwitz geht, dann bestand die sowjetische Armee nicht aus Russen, sondern aus Ukrainern, weil es Kämpfer der ersten Ukrainischen Front waren. Niemand will erklären, dass diese Militärverbände nach der Richtung ihrer Offensive benannt wurden, nicht nach dem Ort, an dem sie gebildet wurden. Putin muss ja nur Statements von europäischen Politikern über die Befreiung von Auschwitz nehmen, die sagen, dass Alliierte Truppen Auschwitz befreit haben und die Rote Armee nicht mal erwähnen. Er übersetzt das der Bevölkerung und fragt: Muss ich euch wirklich erklären, dass diese Leute russophob sind? Der russischen Gesellschaft ist dieser Sieg heilig. Nun hören sie so etwas und denken: Ja, wir sehen es auch.

Ich sehe, dass deutsche Politiker die Befreiung von Auschwitz klar der Roten Armee zuschreiben.

Beispielsweise hat Ursula von der Leyen, EU-Kommissionspräsidentin, eine gemeinsame Erklärung mit den Präsidenten von Rat und Europäischem Parlament unterschrieben, die mit den Worten beginnt, dass die Alliierten das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreit haben. Kein Wort davon, dass es sowjetische Truppen waren.

Sie sagen, die russische Gesellschaft spüre, dass ihr Sieg marginalisiert wird. Oder wird ihr das von oben vorgesagt?

Ich war einer der ersten, der der russischen Gesellschaft die Resolution des Europäischen Parlaments von September 2019 erklärt hat, was sie bedeutet. Diese Resolution beschreibt die Sowjetunion und Nazideutschland als zwei gleichermaßen böse, totalitäre Regime, die alleinig verantwortlich sind für den Krieg und all seine Gräueltaten. Sie nennt allein Russland, das seine Hausaufgaben nachholen muss, niemand anderen. Aber meine Reaktion darauf unterscheidet sich von der offiziellen Linie. Die offizielle Linie lautet: Wir befinden uns in einem Erinnerungskrieg und wir sollten unsere Sichtweise verteidigen. Ich sage: Wir sind im Kriegszustand, aber selbst in einem Erinnerungskrieg muss man darüber nachdenken, wie man Frieden schließen kann.

Wie würden Sie diesen Krieg beenden?

Als erstes muss man erkennen, dass nicht der gesamte Westen so denkt. Wir sollten mit Europa so freundschaftlich wie es geht als Nachbarn zusammenleben. Putin konzentriert sich zu sehr auf Konfrontation. Oder vielleicht nicht Putin selbst, aber die Menschen, die diese Politik umsetzen. Politik dreht sich um Konflikte, Erinnerung darum, Konflikte zu überwinden. Aber jetzt haben wir einen anderen Ansatz, in Europa genauso wie in Russland, in dem die Erinnerung ein Raum für Konflikt geworden ist, einfach nur eine Fortsetzung von Politik.

So wie Putin den 9. Mai politisch für sich ausnutzt. Spielt ihm der Geschichtsstreit dabei nicht in die Hände?

Es hilft ihm, das Datum politisch zu nutzen. Aber wie er dieses Datum politisch nutzen will, ist nicht eindeutig. Was Geschichtspolitik angeht, ist Putin ein Opportunist. Wenn er jemanden im Ausland als möglichen Partner wahrnimmt, signalisiert er immer Bereitschaft, nach einer gemeinsamen Grundlage zu suchen. Ein wichtiges Beispiel: Als Tusk ihn 2009 auf die Westernplatte einlud, hat Putin noch gesagt, man könnte nicht stolz sein auf den Molotow-Ribbentrop-Pakt. Tusk sagte damals, dass die Sowjetarmee Polen von den Nazis befreit habe, aber keine Freiheit bringen konnte, weil sie selbst nicht frei war. Und Putin war völlig glücklich mit dieser Formulierung. Wahrscheinlich hätte er auch jetzt eine Art von Aussöhnung gesucht: Bei seiner Rede in Yad Vashem im Januar schlug er vor, dass die Mitglieder des UN-Sicherheitsrats gemeinsam darüber reden sollten, wie sie die Frage des Zweiten Weltkriegs angehen. Er hoffte eindeutig, dass viele Staatschefs zum 9. Mai nach Moskau kommen. Das Virus hat das jetzt verhindert.

In Sankt Petersburg hat Putin im Januar gesagt, er wolle Geschichtsfälschern "das Maul stopfen", das klang wenig versöhnlich. Glaubt er, dass die Russen so etwas hören wollen?

Als Putin von der Resolution des Europäischen Parlaments erfahren hat, wahrscheinlich im Oktober, hat er erkannt, dass das eine große Herausforderung ist. Und dass auch Politiker aus Westeuropa für diese Resolution gestimmt haben und niemand in Europa sie kritisiert. Da hat er beschlossen, dass er nun eine mächtige Provokation braucht. Das hat tatsächlich ganz gut funktioniert. Es hat eine Welle entsetzlicher Reden und Artikel in Polen ausgelöst, extrem aggressiv, extrem russophob. Putin hat sein Ziel erreicht, weil er gezeigt hat: Wenn die Europäer den Polen erlauben für sie zu sprechen, dann unterschreiben sie einen extrem parteiischen Ansatz.

Ist der russische Ansatz nicht genauso parteiisch?

Natürlich. Aber es ist genauso wichtig zu fragen, wie wir zu diesem Punkt gekommen sind. Der russische Ansatz war anfangs, die sowjetische Vergangenheit als gemeinsame tragische Erfahrung aller Menschen in der Sowjetunion zu betrachten. Doch das war es nicht, wonach Russlands neue unabhängige Nachbarn suchten. Russland hat das geheime Zusatzprotokoll des Molotow-Ribbentrop-Pakt bereits 1989 verurteilt und ebenso die sowjetische Besatzung der baltischen Staaten 1940. Doch gleich danach erklärten Lettland und Estland, dass alle, die nach der Annexion durch die Sowjetunion in diese Länder gekommen sind, keine Staatsangehörigkeit erhalten, und ihre Kinder auch nicht. Ein anderes Beispiel: Jeder erinnert sich an Willy Brandts Kniefall in Warschau. Aber erinnert sich irgendjemand, dass Putin vor dem Denkmal von Katyn gekniet hat.

Wo der sowjetische Geheimdienst 1940 mehr als 4000 kriegsgefangene polnische Offiziere erschossen hat.

Niemand erinnert sich an Putins Kniefall. Weil es niemanden interessiert. Was ich damit sagen will: Russland war ein Spätzünder was diese neue Herangehensweise an die Geschichte angeht.

Sie sagen, die anderen haben angefangen mit der Geschichtspolitik. Warum?

Ich denke, diese Strategie gab es in Osteuropa von Anfang an, vor allem in der Ukraine und den baltischen Staaten. Nach der Befreiung von der Sowjetunion waren sie in einer unbequemen Lage, weil viele der Individuen, die während des Krieges gegen die Sowjets gekämpft haben, auch aktiv am Holocaust beteiligt waren. Wenn der Holocaust das zentrale Übel ist, ist Buße der einzige Weg. Ihre Strategie war nun, den Westeuropäern zu erklären: Wir haben unter zwei Totalitarismen gelitten, deswegen haben wir euch gegenüber moralisches Kapital. Zweitens sehen wir eine extreme Aktivierung dieser Tendenz nach 2014, nach dem Ukrainekonflikt und der Annexion der Krim.

Ist nicht der Gründungsmythos, von dem Sie anfangs sprachen, Teil dieses Problems: für die Osteuropäer bedeutet das Ende der Sowjetunion 1991 eine Befreiung, die meisten Russen betrachten es heute als Niederlage.

In gewissem Sinne ja, da beginnt der Konflikt. Aber die Russen waren bereit, 1991 als Sieg zu betrachten. Und als Befreiung. Aber das hätte bedeutet, dass sie den Kalten Krieg nicht verloren haben. Sie hatten gemeinsam mit allen anderen Menschen einen Sieg gegen den Kommunismus errungen. Sie wollten Teil einer zivilisierten Welt sein, wie Gorbatschow es nannte, was eine Art von Mitgliedschaft bedeutet hätte etwa in der EU oder der Nato. Bis 1994, vielleicht 1995, hat sich die russische Elite verzweifelt nach so einer Mitgliedschaft gesehnt. Es stellte sich heraus, dass niemand sie aufnehmen wollte. Dazu kommt: Das BIP fiel damals um 40 Prozent und blieb dort für zehn Jahre. Es gab eine Welle von Selbstmorden und Morden, die diesen ökonomischen Abstieg widerspiegelten. Den Russen 1991 als Sieg zu verkaufen bedeutet, sie als Idioten zu verkaufen.

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