Russland:Verbotsverbot

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Ein Zensurstreit beschäftigt Russland: Muslime fordern das Verbot der Überprüfung religiöser Schriften auf extremistische Inhalte.

Von Julian Hans

Die Neigung von Religionen zum Verbot ist vom mittelalterlichen Index Librorum Prohibitorum bis zum Anschlag auf Mohammed-Karikaturisten ungebrochen. Die russisch-orthodoxe Kirche ist da ebenso wenig eine Ausnahme wie Vertreter der Muslime in Russland, etwa wenn es darum geht, Kunstwerke zu verbannen. Tschetschenen-Chef Ramsan Kadyrow schaffte es sogar, die Ermordung des Oppositionellen Boris Nemzow mit dessen Reaktion auf die Charlie-Hebdo-Morde zu begründen.

Doch inzwischen fällt der von den Religionsgemeinschaften angefeuerte Zensur-Wahn auf sie selbst zurück. Bisherige Zensurfreunde fordern nun ein Verbotsverbot - allerdings nur für Schriften ihrer Glaubensgemeinschaften. Ein tschetschenischer Abgeordneter brachte einen Gesetzentwurf in die Staatsduma ein, der es verbieten soll, religiöse Schriften auf Extremismus zu prüfen.

Hintergrund ist ein Schlagabtausch, den sich Ramsan Kadyrow im August mit der Justiz lieferte: Das Gericht von Juschno Sachalinsk hatte das Buch "Das Flehen zu Gott, seine Bedeutung und sein Platz im Islam" als extremistisch eingestuft und dafür Koran-Zitate als Belege aufgeführt. Kadyrow beschimpfte Richterin und Staatsanwältin als "Landesverräterinnen und böse Geister" und versprach, sie "selbst zur Verantwortung zu ziehen".

Unabhängig davon, dass das russische Strafgesetzbuch für die Beleidigung von Richtern und Staatsanwälten mehrjährige Haftstrafen vorsieht, fand Kadyrows Forderung, Richtern die Überprüfung religiöser Schriften zu verbieten, die Unterstützung der orthodoxen Kirche. Im Juli hatten die russischen Behörden mehr als 2000 Bibeln beschlagnahmt, die für die Zeugen Jehovas bestimmt waren, und sie ebenfalls auf Extremismus untersuchen lassen.

Unerwartete Unterstützung bekam Kadyrow von Pawel Tschikow. Die Gerichte würden "alles Mögliche" als extremistisch stempeln, schrieb der Leiter der Menschenrechtsorganisation Agora. "Schon mehr als 3000 stehen auf der Liste." Die Gründe seien oft nicht nachzuvollziehen. "Die Expertisen werden in geheimen Amtsstuben durchgeführt, in denen Pseudowissenschaftler jeden Mist begründen."

© SZ vom 23.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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