Russland:Veraltete Rezepte

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Die Proteste und das Attentat zeigen: Putins Kontrolle über sein Land hat Lücken. Polizei und Geheimdienste verlieren an Wirkung. Russlands Machtentfaltung in der Welt kann die Probleme zu Hause nicht mehr kaschieren.

Von Julian Hans

Innerhalb weniger Tage haben zwei Ereignisse die russische Öffentlichkeit aufgewühlt. Für beide hatte sich der Staat lange gewappnet, trotzdem wurde er beide Male überrascht. Das erste waren die landesweiten Proteste vor einer Woche. Seit dem Krim-Anschluss liegen die Zustimmungswerte von Präsident Wladimir Putin bei mehr als 80 Prozent. Bei den Parlamentswahlen im Herbst schaffte es kein einziger Kreml-Gegner ins Parlament. Das wirkt wie unerschütterliche Stabilität. Trotzdem überzieht die Justiz Oppositionelle mit Verfahren, Nichtregierungs-Organisationen werden ständig kontrolliert, die Polizei nimmt Schüler wegen eines kritischen Eintrags im Internet mit aufs Revier. Und dann passiert das Unwahrscheinliche: Plötzlich demonstrieren Zehntausende im ganzen Land gegen Korruption an der Staatsspitze, ohne dafür eine Erlaubnis abzuwarten.

Proteste, Terror: Putins Kontrolle über das Land zeigt Lücken

Das zweite Ereignis war der Anschlag in der Metro von St. Petersburg an diesem Montag. Der Terror ist für Russland kein neues Thema. Lange bevor die Bürger von Brüssel, Paris und Berlin Erfahrungen mit islamistisch motivierter Gewalt machten, hatte es in Moskau Geiselnahmen und Sprengstoffanschläge mit Hunderten Toten gegeben. Doch seit dem Doppelanschlag an zwei Stationen der Moskauer Untergrundbahn im Jahr 2010 ist den Terroristen kein Angriff auf die Großstädte im europäischen Teil des Landes mehr gelungen.

Dies wurde als Erfolg des rücksichtslosen Durchgreifens der Sicherheitsbehörden in anderen Landesteilen gewertet. Denn in Wahrheit war der Terror nie weg, er wurde nur aus dem europäischen Zentrum an den Rand gedrängt. Bei Anti-Terror-Einsätzen in Dagestan sterben fast wöchentlich islamistische Fanatiker und Kämpfer von Spezialeinheiten. In Tschetschenien ist es der Republikchef selbst, der die eigene Bevölkerung terrorisiert. Seine Schergen dürfen sich minderjährige Bräute aussuchen und Blutrache üben. Von seinen islamistischen Gegnern unterscheidet ihn inzwischen nur noch sein Treueschwur auf den Präsidenten.

Gleichzeitig veränderte sich der Widerstand im Kaukasus über die Jahre: von einem Kampf für mehr Autonomie, getragen von ehemaligen sowjetischen Offizieren im ersten Tschetschenienkrieg, zu einem religiös motivierten Dschihad im zweiten Krieg. Seitdem haben sich die Radikalen in die internationalen Netzwerke der Islamisten eingefügt. Heute kämpfen Tschetschenen in Syrien, Kirgisen und Usbeken bomben in der Türkei und in Russland. Hier fügt sich St. Petersburg in die Reihe von Paris, Brüssel und Berlin.

Die zeitliche Nähe der beiden Ereignisse - der Proteste und des Anschlags - sollte nicht dazu verleiten, sie leichtfertig in Verbindung zu bringen. Sowohl bei kremltreuen Medien als auch bei seinen Kritikern griffen nach dem Schock vom Montag die Reflexe. Erstere setzten Gleichheitszeichen zwischen Terroristen und liberaler Opposition, sie hätten beide ein Ziel: das Land zu destabilisieren und die Regierung zu stürzen. Letztere witterten die Absicht des Kreml, durch eine neue Bedrohung das Volk vor den Wahlen 2018 hinter seinem Führer zu versammeln.

Ideologien und Verschwörungstheorien beiseitegelassen, dürfte klar sein: Proteste und Terror haben die Aufmerksamkeit von der Außenpolitik auf die Probleme im Land selbst gelenkt. Die Zeiten, in denen jede Klage über steigende Preise oder kaputte Straßen mit Russlands Größe und seiner neuen Rolle in der Welt vom Tisch gefegt werden konnte, enden.

Die jüngsten Entwicklungen haben für alle sichtbar gemacht, was ohnehin klar war: dass der Staat die totale Kontrolle, die er anstrebt und verspricht, nicht erreichen kann. Bisher standen auf den Rezepten dafür Polizei und Geheimdienst. Wenn die Wirkung nachlässt, wird die Dosis erhöht - so ist es immer wieder geschehen, seit Putin vor 17 Jahren in den Kreml eingezogen ist. Die Frage, ob dieser Weg, abgesehen von der Beschneidung der Freiheitsrechte, auch effektiv ist, wird in Putins Russland, in dem der Geheimdienst die ultimative Antwort auf alle Probleme ist, nicht gestellt.

Doch jetzt bereitet sich Russland nicht nur auf die Präsidentschaftswahlen 2018 vor, sondern auch auf die Fußballweltmeisterschaft. In wenigen Monaten schon soll der Confederations Cup den Auftakt geben. Selbstverständlich wird auch in St. Petersburg gespielt. Zwei Dinge kann Putin dabei gar nicht brauchen: Terrorangst und zu offensichtliche Repressionen. Schließlich holt man sich solche Sport-Spektakel unter dem Einsatz enormer Kosten und Mühen doch gerade deshalb nach Hause, um sein Land als sicher und weltoffen zu präsentieren. Die alten Rezepte verlieren ihre Wirkung. Die Zeit, neue zu entwickeln, ist knapp.

© SZ vom 05.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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