Russland und der Westen:Wenn 1914 nicht vergeht

Merkel visiting Ukraine for talks

Solidarität mit der Ukraine, aber keine Feindschaft mit Russland: Kanzlerin Angela Merkel beim ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko

(Foto: dpa)

Bundespräsident Gauck in Belgien, Merkel in Kiew: Überall wird an die Toten des Ersten Weltkriegs erinnert. Im Westen Europas ist das Gift der Kriege entsorgt - im Osten nicht. Wo vor 100 Jahren die Ostfront verlief, klingt die rhetorische Gedenkroutine erschreckend aktuell.

Kommentar von Heribert Prantl

Vor einem Jahrhundert: Es jährt sich in dieser Woche die Schlacht von Tannenberg und es jährt sich, wenig später, die Schlacht an der Marne. Tannenberg/Ostpreußen, heute Polen: Der Name steht für die Ostfront des 1. Weltkriegs. Die Marne, rechter Nebenfluss der Seine, steht für die Westfront.

Bei Tannenberg haben die Deutschen unter Führung der Generale Hindenburg und Ludendorff die russische Armee vernichtend geschlagen. An der Marne dagegen kam der Vorstoß der deutschen Armeen zum Stehen. Die verlorene Schlacht an der Marne war kriegsentscheidend, die gewonnene von Tannenberg nicht.

Die verlorene und die gewonnene Schlacht: Es lässt sich kaum sagen, welche unheilvoller war für das deutsche Selbstbewusstsein. Der Tannenberg-Mythos, der Hindenburg zum sagenhaften Volkshelden machte, ließ sie an sagenhafte militärische Kraft glauben. Die Niederlage an der Marne aber machte sie empfänglich für das Gift von Dolchstoßlegenden. Beides hat zum 2. Weltkrieg geführt.

Virulente Vergangenheit

Das Gift des Krieges, das Gift der Kriege ist nur im Westen Europas entsorgt; im Osten nicht. Teile des europäischen Ostens sind Irredenta; sie haben den Anschluss an Frieden und Gemeinwohl noch nicht gefunden. Viele Orte der Schlachten an der Ostfront des 1. Weltkriegs liegen in der krisen-und kriegsgeschüttelten Ukraine, der die Kanzlerin soeben einen Beileids- und Beistandsbesuch abgestattet hat.

Und in Weißrussland, wo sich in dieser Woche die Präsidenten der verfeindeten Staaten Russland und Ukraine, Putin und Poroschenko, treffen, liegen andere große Schlachtorte des 1. Weltkriegs: Am Naratsch-See scheiterte 1916 die letzte Großoffensive der Zarenarmee, dort ertranken die Soldaten zu Zehntausenden. Diese Vergangenheit ist in Osteuropa virulenter als im Westen. Die Lehren aus der Geschichte sind aber seltsam leer, wenn es um Russland und die Ukraine geht.

In Frankreich hat Bundespräsident Joachim Gauck unlängst den riesigen Soldatenfriedhof, genannt "Menschenfresserberg" besucht, um an den Kriegsbeginn 1914 zu erinnern und dem Hass abzusagen. "Alle glaubten", so sagte er, "auf Seiten der wahren Kultur und Zivilisation zu stehen und diese gegen die Feinde zu verteidigen. Deshalb wollen wir uns stets aufs Neue darauf verpflichten, den politischen Willen nicht zu verlieren, der aus alten Feinden Partner und Freunde macht."

In Belgien beklagte Gauck "das eklatante Versagen der Diplomatie", eine "maßlose Propaganda" und eine "unerhörte Verteufelung des Feindes" als Ursache für den Kriegsausbruch. Ist es naiv, sich zu wünschen, Gauck hätte diese Worte auch in Russland und der Ukraine gesprochen?

Gewalt beginnt mit Worten

In Westeuropa klingen solche Sätze, so richtig sie sind, nach Gedenkroutine. Auf Russland, die Ukraine und die Krim bezogen, sind sie erschreckend aktuell. Das, was Gauck zurückblickend beklagt hat - das gibt es ja immer noch: in Russland, der Ukraine, bisweilen auch in der Art, wie Westeuropa mit dieser Krise umgeht. Es gilt, die Verteufelung des Gegners und eigene Selbstgerechtigkeit zu vermeiden.

Angela Merkel hat sich in Kiew nicht zu neuer Schärfe gegen Russland hinreißen lassen; sie hat von Solidarität mit der Ukraine gesprochen, aber nicht Feindschaft mit Russland gesät. Sie lässt Türen offen, schlägt sie nicht zu. Sie redet nicht so fanfarenhaft daher wie Nato-Generalsekretär Rasmussen, der sich oft so äußert, als wolle er noch Öl ins Feuer gießen.

Gewiss ist es so, dass Agitation ohnehin Merkels Sache nicht ist. Sie weiß aber wohl, wie wichtig auch verbales Abrüsten ist. Gewalt beginnt mit Worten. Alfred Kerr, der Theaterkritiker, hat vor hundert Jahren zu den Russen in Ostpreußen hinübergebrüllt: "Hunde dringen in das Haus / Peitscht sie raus!"

Erinnerung heißt Befreiung, auch von den alten Feindbildern und den Methoden, sie aufzubauen. Geifernd wie einst ist die Sprache nicht mehr. Niemand feiert mehr den Krieg; der patriotische Unsinn der besseren Kreise erlebt keine Neuauflage. Man redet, raunend, von Verantwortung, die Deutschland weltweit übernehmen müsse; und meint Militäreinsätze. Die Sprache hat einen Tarnanstrich.

Mumm, Härte, Gewalt

Aber wenn es um Putin geht, wird die Zurückhaltung abgelegt. Stoppt Putin jetzt!, rufen Schlagzeilen. Das ist ein Aufruf - aber zu was? Zu irgendetwas Kraftvollem, was ungesagt bleibt; Mumm, Härte, Gewalt. Erinnerung heißt Befreiung: gewiss nicht von notwendig deutlicher Kritik an Putin; aber von Feindbildmacherei.

Erinnerung ist auch Befreiung zu einer Selbstkritik, die sieht, dass der Westen nicht ganz unschuldig ist an der Eskalation in der Ukraine. Erinnerung heißt: den politischen Willen nicht verlieren, der aus alten Feinden Partner und Freunde macht. Das ist eine europäische Aufgabe.

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