Russland:Kartoffeln statt Schultüte

Was Russlands Kinder mitbringen müssen.

Von Frank Nienhuysen

Der Schulbeginn ist auch für Eltern in Russland mitunter eine schwere Last, aber 16 Kilogramm Kartoffeln war einigen dann doch zu viel. Sie hätten der Schule statt der verlangten Naturalien für die Mittagskantine auch gleich Bargeld bezahlen können, aber angesichts der fragwürdigen Alternativen fanden sie es sinnvoller, sich telefonisch zu beschweren. Das Beispiel aus der russischen Republik Tatarstan ist bizarrer als andere, obwohl: Ungewöhnlich klingt auch ein Fall aus der Stadt Rostow, wo eine Bildungsstätte von Eltern einen Kredit begleichen lässt, weil sie sich für knapp 7000 Euro mit einem Drehkreuz ausstattet.

Die russische Rechtsschutzorganisation "Sona Prawa" (Zone des Rechts) jedenfalls hat zum Wochenende eine telefonische Hotline-Aktion beendet, bei der Eltern aus den Weiten Russlands ihre Erfahrungen zum Beginn des neuen Schuljahres melden konnten: Die Anrufe kamen aus fast 30 Regionen des Landes, vom Moskauer Umland, dem Ural, dem Schwarzmeergebiet oder aus der Baikalregion Sibiriens. Die Organisation wollte sich ein Bild machen und erhielt es auch: Quer durchs Land werden Eltern gedrängt, Einrichtungen von Schulen mitzufinanzieren, Schulbänke, Bücher, Hefte, Sicherheitsdienste, Fassadenanstriche.

Die russische Verfassung, darauf ist das Land stolz, garantiert eigentlich eine kostenlose Schulbildung. Jegliche private Beteiligung darf nur freiwillig sein. Bulat Muchamedschanow, Koordinator von Sona Prawa, schreibt in einer Mail an die SZ, dass viele Eltern "bezahlen, wenn sie sehen, dass das Geld zum Wohle ihres Kindes ausgegeben wird. Falls nicht, lehnen sie ab." Bedenke man aber, dass in 99 Prozent aller Fälle das Geld bar übergeben wird, "spazieren im Land Dutzende, Hunderte Milliarden Rubel außerhalb der Kontrollorgane herum", schreibt Muchamedschanow. In Russland gibt es mehr als 15 Millionen Schüler, und nicht alle leben in der weitaus am besten ausgestatteten Hauptstadt Moskau.

Das Problem ist auch der russischen Führung bekannt. Ende Juli hat sich Präsident Wladimir Putin gegenüber dem kalmückischen Oberhaupt empört: "Schon wenn Eltern gezwungen werden, Bücher zu kaufen, ist das ein Gesetzverstoß, aber eine Schulbank - davon habe ich ehrlich gesagt noch nie gehört." Er wies den Republikchef an, persönlich das Problem zu lösen, woraufhin dieser ehrfürchtig antwortete: "Ich verspreche es Ihnen."

Auch das Bildungsministerium spürt den Sog der Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre. Das Budget für das Jahr 2017 ist nur geringfügig auf etwa 8,3 Milliarden Euro erhöht worden, vor allem in den Regionen und den Gemeinden fehlen Mittel für Renovierungsarbeiten oder den Bau neuer Schulen. In Sibirien fand für einige Klassen der Schulstart in einer Kirche statt, weil die eigenen Räume laut Ren TV "nicht benutzbar" waren. Auch den Lehrern mangelt es an Geld. Vor allem junge Pädagogen klagen über niedrige Gehälter. Wer Geld verdienen wolle, solle in die Wirtschaft gehen, sagte Premier Dmitrij Medwedjew, und: "Halten Sie durch." Viele Russen empörten sich. Konsequenzen hat nun immerhin der Kartoffel-Fall in Tatarstan. Der Schuldirektor hat seinen Rücktritt erklärt - wie es heißt, freiwillig.

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