Russland:Kalkül des Protests

Nach drei Jahren Krise sind viele Russen unzufrieden, doch ausgerechnet die Opfer eines korrupten Systems stehen trotzdem loyal zu Präsident Putin. Widerstand ist vor allem für Staatsbedienstete riskant, für Schüler und Studenten aber sind ängstliche Beamte keine Vorbilder.

Von Julian Hans

Russland-Beobachter verfallen leicht zwei beliebten Irrtümern. Der erste ist zu glauben, mit Umfragewerten von mehr als 80 Prozent sei Wladimir Putin bei seinem Volk über die Maßen beliebt und seine Herrschaft daher unerschütterlich. Der zweite Irrtum ist, den Untergang des Systems schon morgen zu erwarten, sobald im Land mal ein paar Tausend Unzufriedene demonstrieren.

Zur russischen Wirklichkeit gehört es nach drei Jahren Krise, dass eine große Gruppe von Menschen unzufrieden ist, aber trotzdem loyal zum Präsidenten steht. Der Öl-Boom der Nullerjahre ist lange vorbei, und inzwischen lässt auch der patriotische Taumel nach der Krim-Annexion nach. Sorgen über steigende Preise, Armut und die schlechte Wirtschaftslage drängen sich in den Vordergrund.

Eine typische Erscheinung der jüngsten Zeit sind soziale Proteste in der Provinz, etwa der Bergarbeiter in Nowoschachtinsk, der seit Monaten keinen Lohn bekommen hat. Ein Investor hat die Mine ausgeplündert und die Beute wahrscheinlich mit dem Gouverneur geteilt. Der Bergarbeiter fordert vergeblich seinen Lohn, er bittet den Gouverneur um Hilfe, dann protestiert er, schließlich macht er sich mit anderen Kumpeln auf den Weg nach Moskau, um dem Präsidenten von den Missständen zu berichten. Das ist das Paradoxe an Putins Zustimmung in Krisenzeiten: Ausgeplünderte Bergarbeiter, betrogene Bauern, verzweifelte Fernfahrer - die Opfer eines korrupten Systems sehen ihre letzte Rettung in dem, der an der Spitze dieses Systems steht. Wenn er nur erfahren würde, wie man ihnen mitgespielt hat! Der Zar ist gut, die Adligen sind schlecht, sagt ein russisches Sprichwort. Diese Haltung spiegelt sich in allen Umfragen wider: Der Präsident schneidet als Einziger gut ab. Alle anderen Institutionen - Parlament, Regierung, Justiz, Polizei - werden vom Volk regelrecht verachtet.

Für Schüler und Studenten sind ängstliche Beamte keine Vorbilder

Das ist auch ein Ergebnis der 17 Jahre, in denen Putin seine Machtvertikale auf Kosten demokratischer Institutionen stetig gestärkt hat. Am Ende steuert einer das Land allein von Hand. Und der Kreml verwendet viel Energie und Kreativität darauf, ihn alternativlos erscheinen zu lassen. Dass das nicht demokratisch ist, ist vielen egal. Aber es ist auch nicht effektiv - und das betrifft alle. Ob sie ihre Unzufriedenheit über die Missstände als unterwürfige Bitte an den Imperator überbringen, wie es einmal im Jahr in der Sendung "Der direkte Draht" geschieht, die an diesem Donnerstag wieder ausgetragen wird. Oder ob sie sie als Protest auf der Straße formulieren, wie an diesem Montag, ist letztlich eine Frage von Persönlichkeit und Lebenssituation.

Putins Kernwähler sind Lehrer und andere Staatsbedienstete. Sie sorgen für Mehrheiten, sie werden zu Jubelfeiern für das Regime auf die Straßen geschickt (und verschwinden eilig nach Hause, sobald durchgezählt wurde). Sie verbringen ihr Arbeitsleben in Angst vor Vorgesetzten, Widerstand ist für sie riskant. Anders verhält es sich bei ihren Schülern und Studenten. Ängstliche Beamte sind für sie keine Vorbilder. Einer Karriere mit Kreativität und Fleiß aber steht die Korruption im Weg, die Loyalität belohnt und nicht Talent. Wenn man sein Leben noch vor sich hat und keine Perspektive sieht, etwas daraus zu machen, kann man durchaus zu dem Schluss kommen, dass es riskanter ist, nicht aufzubegehren. Diese jungen Leute sehen in dem Anwalt und Anti-Korruptionsaktivisten Alexej Nawalny einen, der es vormacht.

Echte Veränderung wird aber erst stattfinden, wenn auch die anderen in ihrer Risikoabwägung zu diesem Schluss kommen. Das kann durch ein unerwartetes Ereignis schon morgen der Fall sein, oder erst in zehn Jahren. Mit dieser Unsicherheit leben der Kreml, das Volk, und letztlich auch Russlands Nachbarn und Partner.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: