Russland:In aller Unschuld

Die Vereinbarung zum Waffenstillstand hat Moskau zwei Trümpfe beschert. Damit ist es einfacher, die USA für die Eskalation verantwortlich zu machen.

Von Julian Hans

Noch vor zwei Wochen schien Russland davorzustehen, von einem Paria zu einem Verbündeten zu werden, wenn auch zu einem ungeliebten. Heute, nach dem Luftangriff auf den Hilfskonvoi der Vereinten Nationen und nach dem Abwurf bunkerbrechender Bomben auf Wohngebiete in Aleppo, steht Moskau international so isoliert da wie seit dem Abschuss der Boeing 777 im Juli 2014 nicht mehr. Damals starben 298 Menschen über der Ostukraine.

Dass selbst der UN-Generalsekretär Ban Ki Moon den Bombenhagel auf Aleppo ein "Kriegsverbrechen" nennt, erfahren die russischen Fernsehzuschauer nicht. Als einzige Zeitung widmete am Montag der Kommersant dem Thema überhaupt einen Artikel. "Der Waffenstillstand mit Russland wird aufgekündigt", titelte das Blatt, das nah an der Linie des russischen Außenministeriums berichtet, und stellte fest, dass die gemeinsame Erklärung der westlichen Staaten auch von Deutschland, Italien und Frankreich mitgetragen wurde, die sich bis zuletzt mit Kritik an Moskau zurückgehalten hatten. Der Kreml wies die Kritik im Sicherheitsrat zurück. Der Ton Großbritanniens und der USA sei "inakzeptabel", sagte Wladimir Putins Sprecher Dmitrij Peskow laut der Agentur Interfax. "Derlei Rhetorik ist geeignet, den Bemühungen für eine Beilegung des Konflikts ernsthaft zu schaden."

Aus der Waffenstillstandsvereinbarung vom 9. September hat Moskau zwei Trümpfe gezogen, die Russlands Regierung aktiv einsetzt. Da ist zunächst die Vereinbarung selbst, deren Wortlaut auf Bitte der Amerikaner nicht öffentlich gemacht wurde. Washington möchte nicht, dass die Welt im Detail erfährt, wie weit man den Russen und damit auch dem Diktator Baschar al-Assad entgegengekommen ist und früher vertretene Prinzipien über Bord geworfen hat. Immer, wenn die Amerikaner nun Vorwürfe gegen Moskau erheben, droht Lawrow damit, den Text zu veröffentlichen.

Der zweite Trumpf ist die Zusage der Amerikaner, Kämpfer der ehemaligen Nusra-Front und gemäßigte Aufständische zu trennen. Allen Seiten war von vornherein klar, dass diese Zusage unerfüllbar ist, dennoch - oder vielleicht gerade deswegen - bestand Russland darauf, dass sie Teil des Waffenstillstandspakets wird. Dass die Vereinigten Staaten in einer Woche Waffenruhe das Unerreichbare nicht erreicht haben, führte Russlands UN-Botschafter Witalij Tschurkin am Sonntag vor dem Sicherheitsrat ins Feld - um seinerseits Washington für das Scheitern der Waffenruhe verantwortlich zu machen. Außenminister Sergej Lawrow sagte in einem Fernsehinterview, es sei verfrüht, das Abkommen zu begraben. Allerdings habe er sein Vertrauen in die Amerikaner verloren: "Ich weiß nicht, wie es denen geht, aber ich weiß schon nicht mehr, wem ich glauben kann." Die Frage, warum Russland Assads Kriegsverbrechen unterstützt und auf diese Weise die lange angestrebte Partnerschaft auf Augenhöhe mit den USA verspielt, macht Diplomaten ratlos. Eine klare Antwort haben sie nicht gefunden. Bisher waren sie davon ausgegangen, dass die Erinnerung an das Afghanistan-Desaster der Sowjetunion Moskau davon abhält, in Syrien in einen aussichtslosen Kampf um die Eroberung des ganzen Landes einzusteigen.

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