Russland:Der Kreml instrumentalisiert die angebliche Vergewaltigung in Berlin

Demo von Russlanddeutschen gegen erfundene Vergewaltigung

Russlanddeutsche bei einer Demo in Villingen-Schwenningen (Baden-Württemberg). Der Kreml suggeriert seinem Volk gerne, wie gefährlich es im Ausland für Russen ist.

(Foto: dpa)

Der Effekt: Das prekäre Leben in Russland erscheint weniger bedrohlich. Das ist ein altbekanntes Muster.

Kommentar von Julian Hans, Moskau

Wohl keine andere Tat emotionalisiert so wie der Missbrauch von Minderjährigen. Schon ein Gerücht genügt, und Menschen sehen rot. Und wer rotsieht, ist für Fakten blind. Es gibt Beispiele in der Geschichte, wie Gerüchte über Vergewaltigungen durch ein Mitglied einer anderen Nationalität Pogrome auslösten.

Seit mehr als einer Woche hält das russische Staatsfernsehen das Gerücht am Kochen, Flüchtlinge hätten in Berlin ein 13-jähriges russischstämmiges Mädchen vergewaltigt. Zunächst war von einer Massenvergewaltigung die Rede. Die Polizei dementierte: Es habe weder eine Entführung noch eine Vergewaltigung gegeben, aber es werde weiter in dem Fall ermittelt. Auch einvernehmlicher Sex mit Minderjährigen ist strafbar. Dass die Polizei nicht mehr Details an die Öffentlichkeit gibt, ist bei Sexualdelikten gegen Minderjährige die Regel. Es geht darum, das Opfer zu schützen.

Am Dienstag sprach der russische Außenminister den Fall auf seiner Jahrespressekonferenz an. Dieser sei von den deutschen Behörden "verschwiegen" worden, das Mädchen sei "zweifellos nicht freiwillig 30 Stunden verschwunden gewesen". Die russische Botschaft in Berlin "arbeite" mit dem Anwalt der Minderjährigen und deren Familie zusammen. Er hoffe, dass sich ein solcher Fall nicht wiederhole. Zuvor hatte er in seinem Ausblick auf das Jahr betont, Russland werde auch weiterhin an der Politik festhalten, die Rechte seiner Landsleute im Ausland zu schützen.

Geschichten von Russen, die im Ausland bedroht werden

Das weckt Assoziationen. War der Schutz russischer "Landsleute" nicht auch Vorwand für die Krim-Annexion und die Einmischung im ukrainischen Donbass? Nun wird auch in der russischen Führung niemand erwägen, Berlin zu annektieren oder einen Bürgerkrieg in Deutschland anzufachen. Aber die Bilder von einem schwachen Europa, in dem sich Chaos breitmacht, sind der russischen TV-Propaganda willkommen. Geschichten von Russen, die im Ausland bedroht werden, lassen das zunehmend prekäre Leben im eigenen Land weniger bedrohlich erscheinen. Lieber die vertraute Krise zu Hause als Vergewaltigung und Chaos im Westen.

Am Wochenende haben in mehreren deutschen Städten Russlanddeutsche gegen den Zuzug von Flüchtlingen demonstriert. In Berlin taten sie dies vor dem Kanzleramt, die Kameras des russischen Fernsehens immer dabei. Eine frühere Demonstration im Berliner Stadtteil Marzahn wurde von der NPD mitorganisiert. Was die alten Migranten als ihren Vorzug gegenüber den neuen sehen, ist ihre deutsche Abstammung - auch wenn viele von ihnen nicht Deutsch sprechen und weiter in der Welt des russischen Fernsehens leben.

Sie deshalb pauschal als "Putins fünfte Kolonne" zu bezeichnen, wie in den vergangenen Tagen geschehen, ist die schlechteste aller möglichen Reaktionen. Solche Begriffe sollte man dem Kreml überlassen. Eine Stigmatisierung von vier Millionen Bürgern aus der ehemaligen Sowjetunion würde genau zu der Lagerbildung führen, die dem Kreml in die Hände spielt.

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