Russland:Bitterer Wein zum Fest

Während das Volk Fußball schaut, langt die Regierung bei den Renten zu.

Von Julian Hans

In Erinnerung an die Besetzung der Krim zu den Klängen des Schlussakkords bei den Olympischen Spielen 2014 in Sotschi haben sich manche gefragt, wen die russische Führung wohl während der Fußballweltmeisterschaft überfallen könnte. Seit Donnerstag ist klar: Es ist das eigene Volk. Am Tag der Eröffnungsfeier verkündete Ministerpräsident Dmitrij Medwedjew die härtesten sozialen Einschnitte seit der Jelzin-Zeit. Das Renteneintrittsalter für Männer wird von 60 auf 65 Jahre angehoben, für Frauen steigt es von 55 auf 63 Jahre. Und zwar schrittweise schon von 2019 an. Gleichzeitig wird die Mehrwertsteuer erhöht - von 18 auf 20 Prozent. Das wird die Preise weiter in die Höhe treiben, die schon infolge der Rubelschwäche in den vergangenen Jahren stark gestiegen sind.

Armut, niedrige Renten und steigende Preise bereiten den Menschen in Russland mehr Sorgen als irgendetwas sonst. Wenn Soziologen fragen, was die Russen am meisten bedrückt, landen soziale Themen jedes Mal auf den ersten Plätzen. Die Sanktionen gegen ihr Land, aber auch die Einschränkung demokratischer Freiheiten stehen ganz am Ende der Liste. Erst kommt das Brot, dann die Moral.

Die schmerzhaften Reformen fallen nicht aus heiterem Himmel. Seit vielen Jahren wird darüber gesprochen, dass die Arbeitnehmer länger arbeiten müssen. Seit Russland vor vier Jahren in die Rezession gestürzt ist, ist auch klar, dass der Staat neue Einnahmen braucht, um den Haushalt stabil zu halten. Die Experten waren sich lange einig. Es fehlte nur eine passende Gelegenheit, um dem Volk diesen bitteren Wein einzuschenken.

Jetzt ist es so weit. Bitteren Wein schenkt man am besten dann ein, wenn die Gäste schon betrunken sind. Für den Rausch sorgt das große Fußball-Spektakel, das am Donnerstag begonnen hat. Wenn die ganze Welt in Russland feiert und die eigene Mannschaft das Auftaktspiel mit 5:0 gewinnt, dann tut es schon nicht mehr ganz so weh. Fernsehen, Internet und Zeitungen sind derart voll mit Fußball, dass da eine Reform nur eine Randnotiz ist.

Mit dem gleichen Kalkül hat die Regierungskoalition in Berlin gerade die Erhöhung bei der Parteienfinanzierung auf den Weg gebracht. Die wirkt sich zwar nicht so unmittelbar auf das Leben der Bürger aus wie Rente und Steuern. Aber Beliebtheitspunkte bekommt man dafür beim Wähler auch nicht.

Rentner mit 65, Rentnerin sogar schon mit 63, das mag sich für deutsche Leser wie Luxus anhören. Aber in Russland beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung auch nicht wie in Deutschland 81 Jahre, sondern 72. Am Ende beziehen die Russen nicht nur weniger Rente, sondern auch kürzer. Die Lebenserwartung bezieht sich zudem auf Kinder, die heute geboren werden. Viele Ältere werden die neue Pensionsgrenze nicht erreichen. Die durchschnittliche Rente beträgt in Russland heute umgerechnet etwa 200 Euro. Weil man davon kaum leben kann, arbeiten 14 Millionen Rentner weiter, das heißt jeder zehnte Einwohner des Landes.

Bemerkenswert ist auch die Aufgabenverteilung. Ministerpräsident Medwedjew musste die schlechte Nachricht verkünden. Präsident Wladimir Putin eröffnete am Abend die WM. Es ist die teuerste in der Geschichte, das Volk bekommt die Rechnung.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: