Ruf nach europäischer Eigenständigkeit:US-Medien rätseln über Merkels Bierzelt-Botschaft

  • "Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei. Das habe ich in den letzten Tagen erlebt", sagte Merkel bei einer Wahlkampfveranstaltung in München
  • In Deutschland und Europa, aber auch jenseits des Atlantiks wurde dies gemeinhin und vor allem als Botschaft an die USA wahrgenommen.
  • Einige US-Medien sehen darin eine grundlegende politische Richtungsänderung in der deutschen Außenpolitik.

Von Barbara Galaktionow

Es dringen nicht oft Worte aus einem bayerischen Bierzelt bis ins breitere Bewusstsein der US-amerikanischen Öffentlichkeit. Doch was Kanzlerin Angela Merkel am Sonntag bei einem Frühschoppen im Münchner Stadtteil Trudering sagte, das macht an diesem Montag auf den Online-Seiten renommierter US-Medien Schlagzeilen.

"Merkel says United States is less reliable" - Merkel sagt, die USA sind weniger verlässlich, heißt es bei der New York Times (NYT). CNN schreibt ganz knapp: "Merkel: Europe can't rely on US" (Merkel: Europa kann sich nicht auf die USA verlassen). Und Politico will erklären, "what Angela Merkel meant at the Munich beer hall" (locker übersetzt: was Merkel wirklich im Münchner Bierzelt sagte).

Es sind nur wenige Sätze der Kanzlerin, die in den USA so ein ungewöhnliches Echo hervorrufen - und über die in Europa wie in den USA nun gleichermaßen gerätselt wird: "Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei. Das habe ich in den letzten Tagen erlebt", sagte Merkel am Sonntag zwischen Blaskapellenklängen und gehobenen Maßkrügen. Und folgerte: "Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen."

In Deutschland und Europa, aber auch jenseits des Atlantiks wurde dies gemeinhin und vor allem als Botschaft an die USA wahrgenommen - auch wenn Merkel Donald Trump nicht explizit erwähnte. Denn der US-Präsident hatte zuvor beim Nato-Gipfel in Brüssel und dem Treffen der G-7-Gruppe auf Sizilien seine Verbündeten durch brüskes und kompromissloses Auftreten irritiert.

Offenbar fühlen sich aber auch die Briten angesprochen. Die britische Innenministerin Amber Rudd jedenfalls betonte, dass ihr Land mit dem Beginn der Verhandlungen zum Brexit "Deutschland und anderen europäischen Staaten versichern" könne, "dass wir ein starker Partner für sie sein werden". Großbritannien wünsche sich eine enge und besondere Partnerschaft, um die Sicherheit in ganz Europa gewährleisten zu können, sagte Rudd der britischen BBC.

Einige US-Medien sehen in den Worten Merkels hingegen vor allem einen Hinweis darauf, dass die Kanzlerin eine "möglicherweise richtungsweisende Veränderung in den transatlantischen Beziehungen" anstrebt, so die NYT. Das Blatt zitiert den früheren Nato-Gesandten Ivo H. Daalder, jetzt Direktor des Chicago Council on Global Affairs: "Dies scheint das Ende einer Ära zu sein, einer, in der die USA führten und Europa folgte."

Einen "enormen Umschwung in der politischen Rhetorik", konstatiert die Washington Post. Sie sieht Merkels Aussagen als klare Folge von "Trumps destaströser Europa-Tour". So sei der US-Präsident bei einer gemeinsamen Erklärung der G-7-Staaten zur Klimapolitik ausgeschert. Zudem habe er sich "ostentativ" geweigert, sich zur Nato-Beistandspflicht nach Artikel 5 zu bekennen, dem "Bollwerk" gemeinsamer Sicherheitsbeziehungen der USA und Europas seit drei Generationen.

Die Washington Post betont, dass Merkels Rede "kein impulsiver Schritt sei". "Merkel entwirft vielmehr das Bild einer anderen EU, einer EU, die stärker ist, selbständiger und nicht mehr willens, Führung in den USA zu suchen." Mit unguten Folgen für die USA: Wenn Verbündete sich von Amerika abwendeten, mindere dies die Möglichkeit des Landes, Einfluss zu nehmen.

Wichtige Botschaften - im Bierzelt verkündet?

Der Economist sieht im Hauptempfänger der Merkelschen Bierzelt-Botschaft denn auch weniger die USA (oder eben das Brexit-planende Vereinigte Königreich), sondern den deutschen Wähler. Was in diesen beiden Ländern derzeit vorgehe, mache es selbst für so "freundliche" Regierungschefs wie Merkel nicht nur möglich, sondern auch "in Hinsicht auf die Wahl lohnend", wichtige Partner in der Öffentlichkeit anzugreifen.

Vorsichtiger beurteilt hingegen das Online-Magazin Politico die Merkel-Rede. Ähnliches habe die Kanzlerin bereits früher gesagt, bemerkt das Magazin unter Verweis auf Äußerungen vom Januar. Und auch wenn der Zeitpunkt der jetzigen Rede - nur wenige Stunden nach dem G-7-Treffen - durchaus sprechend sei, so sei es doch zu früh, Schlüsse zu ziehen.

Zudem, so befindet das US-Nachrichtenportal, würde gerade so eine "vorsichtige" Regierungschefin wie Merkel "kaum eine bayerische Bierzeltveranstaltung wählen", um so eine grundlegende politische Richtungsänderung zu verkünden.

Die CDU-Spitze ist bemüht, den Eindruck einer Abkehr von den USA zu zerstreuen. Der Nato- und der G-7-Gipfel hätten in den vergangenen Tagen gezeigt, dass die Europäer "ihr eigenes Schicksal noch stärker in die Hand nehmen" und für ihre Werte kämpfen müssten, sagte CDU-Generalsekretär Peter Tauber. Deutschland und Europa müssten ihre Interessen in der Welt wahrnehmen, etwa beim Freihandel, Klimaschutz oder in der Sicherheitspolitik. Das habe Merkel im CDU-Präsidium "als erklärte Transatlantikerin, der die deutsch-amerikanische Freundschaft ein Herzensanliegen" sei, unterstrichen, sagte Tauber. Dabei gehe es aber nicht "um eine Neuausrichtung unserer Politik".

Die wenigen Worte, die Merkel selbst am Montag über ihren Regierungssprecher verlauten lässt, verwischen eher den Eindruck eines klaren Kurswechsels. "Da hat eine zutiefst überzeugte Transatlantikerin gesprochen", sagte Steffen Seibert in Berlin. Gerade weil die transatlantischen Beziehungen so wichtig seien, sei es auch richtig, Differenzen ehrlich zu benennen. "Und die zurückliegenden Treffen haben eben eine Reihe solcher Differenzen hervorgebracht", sagte Seibert.

Die deutsch-amerikanischen Beziehungen seien "ein fester Pfeiler unserer Außenpolitik", sagte Seibert.Deutschland werde weiter daran arbeiten, diese Beziehungen zu stärken.

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