Ruanda 1994:Alle sahen nur zu

Ruanda gilt als der schwärzeste Punkt in der Geschichte der Vereinten Nationen. 800.000 Menschen wurden in 100 Tagen ermordet, aber die UN verhinderte das Morden nicht.

Von Michael Bitala

Dass eine Katastrophe bevorstehen könnte, war schon kurz nach dem Attentat am Abend des 6.April 1994 klar. Im Land tobte der Bürgerkrieg, und nun war auch noch der Präsident tot. Das Flugzeug, in dem Ruandas Staatschef Juvenal Habyarimana und sein Kollege aus Burundi saßen, war über Kigali abgeschossen worden.

Doch das, was sich in den folgenden 100 Tagen ereignete, sprengte jede Vorstellungskraft.

Der Völkermord an 800.000 Tutsi und moderaten Hutu war ein Menschheitsverbrechen von Hutu-Extremisten, bei dem das Militär, die Polizei, eine Miliz und ein Radiosender ihre lange einstudierten Rollen hatten - sie wollten verhindern, dass Tutsi und moderate Hutu an der Macht beteiligt würden.

Die Tragödie in ihrem ganzen Ausmaß aber wurde möglich, weil die Vereinten Nationen, die USA, Frankreich und Belgien frühe Warnungen nicht ernst nahmen. Mehr noch: Die UN zogen die meisten ihrer Soldaten ab, als der Genozid gerade begonnen hatte.

1993 hatten das Hutu-Regime von Habyarimana und die Miliz RPF nach drei Jahren Bürgerkrieg einen Friedensplan unterzeichnet, der eine Übergangsregierung und eine UN-Schutztruppe vorsah. Die RPF bestand aus Tutsi und moderaten Hutu, die in Uganda im Exil gelebt hatten; ihr Anführer war Paul Kagame, der heutige ruandische Präsident.

Waffen für die Völkermörder

Die UN hielten 2548 Soldaten zur Friedenssicherung für ausreichend, obwohl der Chef der Truppe, der Kanadier Romeo Dallaire, mindestens 4500 gefordert hatte; außerdem schloss das Mandat militärische Gewalt aus.

Als Dallaire im Januar 1994 erfuhr, dass ein Völkermord geplant wurde, informierte er New York: Es gebe eine Hutu-Miliz mit Zehntausenden Kämpfern und Waffen. Die damals vom heutigen UN-Generalsekretär Kofi Annan geleitete Abteilung für Friedenseinsätze verbot jedoch jedes Eingreifen.

Als der Massenmord begann, forderte Dallaire 5000 Blauhelmsoldaten und die Erlaubnis, Waffengewalt anwenden zu dürfen, um das Schlachten zu beenden. Doch die westlichen Länder schickten lediglich Truppen, um ihre Staatsbürger zu evakuieren. Am 12.April 1994 zog Belgien sein UN-Kontingent ab, da zehn belgische Soldaten ermordet worden waren.

Neun Tage später beschloss der Sicherheitsrat, die verbliebene UN-Truppe auf ein Fünftel zu reduzieren. US-Außenministerin Madeleine Albright wies ihre Untergebenen an, den Begriff "Genozid" nicht zu verwenden, denn dann wäre die Welt gezwungen gewesen, militärisch einzugreifen. Die verheerendste Rolle aber spielte Frankreich: Es lieferte noch im Mai Waffen an die Völkermörder.

Frankreich ermöglichte den Mördern die Flucht

Eine stärkere UN-Mission wurde erst Anfang Juni beschlossen, als schon mehr als eine halbe Million Menschen getötet waren. Aber auch dafür gab es weder Personal noch Geld. Deshalb griff Frankreich ein und ermöglichte den Mördern die Flucht vor der heranrückenden RPF.

Mit der "Operation Türkis" wurde ein "humanitärer Korridor" eingerichtet, durch den die Hutu-Extremisten ins Nachbarland Zaire gelangten, das heute Demokratische Republik Kongo heißt. In den Flüchtlingslagern sammelten sich rund zwei Millionen Hutu, die von den Extremisten kontrolliert und zu Offensiven gegen Ruanda angestachelt wurden.

Deshalb ließ Kagame 1996 die Lager in Kongo angreifen. Zusammen mit Truppen aus Uganda konnten seine Soldaten danach bis nach Kinshasa marschieren, den dortigen Diktator Sese Seko Mobutu stürzen, der den Hutu-Extremisten geholfen hatte, und Laurent Kabila als Präsidenten installieren.

Als dieser sich 1998 gegen Ruanda und Uganda wandte, begann der verheerendste Konflikt Afrikas. Im Kongo-Krieg, der eine Folge des Genozids von Ruanda ist, sind bislang mehr als drei Millionen Menschen gestorben.

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