Rowdy-Szene:Vom Thron geschlagen

Haft und Schnellverfahren

Die Bilanz nach nur sieben Tagen ist erschreckend: Seit dem Beginn des Turniers sind im Zusammenhang mit der Fußball-EM 323 Menschen verhaftet worden. Davon wurden laut französischem Innenministerium 196 Personen in Gewahrsam genommen. Elf wurden inzwischen zu Haftstrafen verurteilt, und drei erhielten Bewährungsstrafen.

Am Donnerstag wurden in Marseille drei Männer im Alter zwischen 28 und 33 Jahren, alle russische Staatsbürger, im Schnellverfahren verurteilt. Das Gericht verhängte Gefängnisstrafen von 12, 18 und 24 Monaten. Insgesamt hatten die Behörden zu Wochenbeginn nahe Marseille 43 Russen vorläufig festgesetzt, was zu einer politischen Krise zwischen den Ländern führte.

Ebenfalls am Donnerstag griffen russische Hooligans in Köln Touristen an. Insgesamt sieben Russen hätten vor dem Dom auf spanische Urlauber eingeschlagen, so die Kölner Polizei. Sechs Männer seien festgenommen worden, gegen sie werde wegen gefährlicher Körperverletzung ermittelt. Es gebe Vermutungen, dass sie sich auf der Rückreise von der EM befunden hätten.

SID

Die Hooligans folgen einer eigenen Logik: Warum in Frankreich jetzt vor allem Engländer und Russen aufeinander losgehen.

Von Ronny Blaschke

Nach der Logik des Hooligans geht es um den Kampf Mann gegen Mann, Stadt gegen Stadt oder, zu feierlichen Anlässen: Nation gegen Nation. Über Jahrzehnte beanspruchten Engländer die Deutungshoheit in dieser Disziplin. Nach der Legende bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts, spätestens aber seit den 1970er-Jahren, als sich Aggressionen in Kneipen und Stadien entluden, auf Straßen und Bahnhöfen. Das blutigste Jahrzehnt im englischen Fußball waren die Achtzigerjahre. Stadionbrände, Massenpaniken und Straßenschlachten kosteten vielen Menschen das Leben. Auf der Insel wurden Sicherheitskonzepte überarbeitet, und so kultivierten die Hooligans ihre Sehnsucht nach Adrenalinstößen mehr im Ausland: Bei der WM 1998 in Frankreich oder bei der EM zwei Jahre später in Belgien und den Niederlanden.

Nach der Logik des Hooligans ist die Erfolgsgeschichte des britischen Rowdytums seit dem vergangenen Wochenende vorüber, zumindest aus der Sicht des russischen Hooligans. Rund 150 Schläger, vor allem aus Moskau und St. Petersburg, gingen in Marseille auf Engländer los, in der Stadt und im Stadion. Durchtrainierte Männer, gestählt in Kampfsportstudios, schnell und brutal, die meisten von ihnen offenbar ohne Alkoholeinfluss. In den Tagen danach veröffentlichten viele von ihnen Kommentare und Fotos in Internetforen, Häme über "dickbäuchige Inselaffen" und Fotos von erbeuteten England-Fahnen. Eines der Zitate lautet: "RIP English Hooliganism", Ruhe in Frieden. Die Russen scheinen ihren Sprung an die Spitze der europäischen Schläger gut geplant zu haben.

Das wollten viele Engländer nicht auf sich sitzen lassen. Hunderte reisten am Dienstag und Mittwoch nach Frankreich. Darunter Dutzende Veteranen, die laut Kennern der Szene seit Jahren nicht mehr im Fußballumfeld gesichtet wurden, die ihre Kämpfe höchstens in der Abgeschiedenheit austrugen, auf Wiesen und Äckern, unbeobachtet von Kameras und Polizei. Am Mittwoch postierten sie sich an verschiedenen Stellen in Lille. Sie sangen und tranken, erzählten sich Heldengeschichten von früher, sie zündeten Feuerwerkskörper und warfen Flaschen - bis in die Nacht.

An diesem Abend wurde deutlich, wie sehr sich die Hooligans aus England und Russland inzwischen unterscheiden. Viele Engländer wirkten unorganisiert und frustriert. Sie schienen sich nicht einig zu sein, ob sie losschlagen sollen oder nicht. Darunter viele Männer jenseits der vierzig, Abbilder von Klischees. Etliche bedrängten Journalisten, sie sahen sich in der Berichterstattung als zu schwach dargestellt. Andere gingen auf Polizisten zu und fragten: "Wo wart ihr in Marseille?" Sie fühlten sich nicht ausreichend geschützt. Mit steigendem Alkoholpegel wurden sie aggressiver. Schließlich prügelten sie sich mit Polizisten und französischen Fans. Größere Gruppen aus Russland waren nicht anwesend, nur wenige Nachwuchshooligans als vereinzelte Späher. Die härtesten russischen Kämpfer betrachten sich bereits als Gewinner des Hauptkampfes.

Gemessen am Gesamtaufkommen der Zuschauer handelt es sich hier um Minderheiten. Es ist erstaunlich, dass ihre Kämpferideale die öffentliche Debatte wieder dominieren. In Russland steht der Gastgeber der WM 2018 vor enormen Herausforderungen. Ein ernst zu nehmendes Sicherheitskonzept oder präventive Fanprojekte gibt es nicht. Auch der Einfluss der wenigen Nichtregierungsorganisationen, die sich gegen Diskriminierung einsetzen, ist gering. Zwischen den Hooligans aus beiden Ländern hat sich nun eine Feindschaft manifestiert. Doch Politik und Funktionäre sollten sich nun bald um die Prävention kümmern. Dazu lässt sich aus England einiges lernen. Seit 1990 begleiten mehrere Sozialarbeiter die britischen Anhänger zu Länderspielen. Als Reaktion auf die Stadion-Katastrophen in den Achtzigerjahren wurden überdies Stehplätze abgeschafft und die Sicherheit in Stadien verbessert. Eine Hooligan-Datenbank wurde eingerichtet, ein Netzwerk von Zivilfahndern geknüpft.

Nach der Jahrtausendwende rückte die Prävention in den Vordergrund. Insgesamt 2500 Mitarbeiter kümmern sich bei den zwanzig Vereinen der Premier League um 850 soziale Projekte. Sie betreuen Schulabbrecher, fördern muslimische Mädchen, unterstützen Kinderheime und Jugendklubs. Der Oberbegriff: "Football in the Community", Fußball in der Gemeinde. Auch der englische Fußballverband FA stößt Kampagnen an. Seine Verantwortlichen müssen dem britischen Sportministerium einmal im Quartal Bericht erstatten. Zudem ist keine vergleichbare Organisation im europäischen Fußball so gut ausgestattet wie die Londoner Antidiskriminierungsinitiative "Kick it out". In der Logik der englischen Hooligans dürften die Schlägereien in Frankreich pure Nostalgie sein. Exzesse wie diese sind auf der Insel unwahrscheinlich.

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